Belästigungen 02/2016: Weshalb der Wortfluß stockt und warum er das beizeiten muß (eine Abschweifung)

Von allen Übeln, die den Menschen befallen, ist das schlimmste: die Schreibblockade, der Ursumpf literarischen Schweigens, die Rachegöttin des gräßlich weißen Blatts, der grauenerregende Hirnkrebs, der den Schöpfer des Weltsinns mit leerem Schädel starrend zurückläßt, während unter dem Balkon des Elfenbeinturms die bange Masse händeringend harrt, vereint im Entsetzen angesichts der schwärenden Drohung, die Schaffenskraft werde womöglich nie wieder erwachen.

Denn was dann, wenn sich aus dem individuellen Leiden am nicht geboren werden wollenden Wort eine Epidemie entwickelt? Wenn die Zeitungsseiten leer bleiben, wenn die Stände der Buchmessen verwaisen, nur sporadisch bestreut mit Goethe-Neuauflagen für den Schulunterricht und einer um ein paar neuerdings „erlaubte“ Schreibweisen erweiterten Duden-Aktualisierung? Wenn im Fernsehen ein Denis Scheck mit leeren Händen als der tumbe Mops dasteht, der er immer schon ist, den aber unter der Maske des scheinbar eloquenten und feinst literarisierten Dampfplauderers keiner sehen mochte?

Was passiert dann? Zieht das lesende Volk dann die geschenkten beziehungsweise auf dringende Empfehlung des damals noch ekstatisch pulsierenden, nun aber schlaff erlahmten Rezensionsbetriebs erworbenen Bestseller der letzten Saison aus dem Regal und schlägt sie lustlos auf, um festzustellen, daß die Shooting-Stars, Fräuleinwunder und Junggenies vom Herbst 2015 denselben Mist fabriziert haben wie ihre Vorgänger 2008 und 1995? Es wäre schrecklich!

Und so sitzt der Schöpfer am Tisch und ringt mit dem Dämon, der ihm den Ideendarm verknotet hat, starrt aus dem Fenster in einem Himmel, an dem der Föhnsturm die Januarwolken dahin und wieder daher treibt, ohne Formulierenswertes zu allegorisieren. Mitleidvolle Freunde regen an, er möge sich doch Anregungen holen, indem er „aktuelles Geschehen“ verfolge. Aber das Studium des vermeintlich politischen, womöglich gar „philosophischen“ Geweses, das ihm aus den Verkündungskanälen entgegenströmt, verhärtet den Krampf zur absoluten Starre und treibt den armen Poeten am Ende noch in den Suff, der schon ganze Schulen hoffnungsvoller Dichter wie James Joyce zu wirren Schwätzern entstellte.

Dabei ist es doch so: daß der Schreiber als Beruf überhaupt erst einen solchen vorweisen kann, seit Jungmenschen danach streben, das „Handwerk“ des Schriftstellens zu erlernen, indem sie sich ein „Studium“ draufschaffen, dessen Absolvenz ihnen die Tür zu einem Betrieb öffnet, in dem folgerichtig produziert werden muß, und zwar planvoll und regelmäßig. Keine Saison, in der nicht ein Rudel solcherart Qualifizierter ihren Gesinnungs- und Befindlichkeitenquatsch zu schäumendem Wortquark aufrührt, dessen vorgeblich „gegenwärtige“ (oder „aktuelle“) Ort- und Zeitlosigkeit offenbar niemandem mehr auffällt oder wenigstens keinen mehr stört. Da werden Telephonhörer in die Hand genommen, wird telephoniert und am WG-Tisch schwadroniert, reist man da und dort hin, um sich selbst zu finden, findet aber immer nur offene Enden und eine als Melancholie deklarierte Leere, die den Leser mit einem Ennui vermeintlicher Erhabenheit und Welterkenntnis auffüllt, die ihm wirksam jeden Versuch austreibt, tatsächlich etwas zu erkennen von der Welt, die ihn umgibt, und ihn statt dessen antreibt, ebenso ort- und zeitlos „sich selbst“ finden zu wollen.

Weiter ist es so: daß der Schreiber beneidenswerterweise eine Arbeit, einen Beruf im günstigen Falle gar nicht hat und haben kann. Zumindest ist ihm eine Neigung zum, mindestens Sehnsucht nach dem Reich der Freiheit eigen, das, wie wir von Karl Marx wissen, erst da beginnt, „wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. Ein Schreiber, der nicht schreibt, tut also nur das, was ihm natürlicherweise zukommt und -steht, in schroffem Gegensatz etwa zum Blechstanzer, zum Teerkocher, der Blech stanzen und Teer kochen muß, weil ihm sonst Herrschende, denen seine Schufterei ihr faules Gewese ermöglicht, die Lizenz zur Selbsterhaltung entziehen.

Der Schriftsteller, der pünktlich zum Halbjahr seinen Band abliefert, von denselben Herrschenden mit Lobung, Ehrung und Preisen bedacht wird und diese Form der würdelosen, sinnlosen, lediglich zielbestimmten „Produktion als Selbstzweck“ (Theodor W. Adorno) als sein „Berufsleben“ verkauft oder gar empfindet, der ist also ein solcher gar nicht, weil ihm der (nicht nur) von Moses Heß erkannte und definierte unbedingte und unüberwindbare Gegensatz zwischen freier Tätigkeit und gezwungener Arbeit entweder gar nicht bewußt ist oder mit der Zeit und unter den Zwängen des Betriebs verschwimmt.

Damit dies niemand bemerkt, damit der „wahre“ Schriftsteller, der sich so wenig zur Arbeit zwingen läßt wie eine müßig in der Mittagssonne auf dem Fensterbrett dösende Katze, nicht als der Dissident erkannt wird, der er sein muß, und möglicherweise zersetzende Wirkung entfaltet, indem er auch andere zur Faulheit und zu einem sinnvollen Leben verleitet, wird ihm zu Zeiten, in denen er die Frage des Reporters (der seinen aktuellen Roman in die Kamera hält), was er denn als nächstes zu schreiben gedenke, mit einem frechen „Keine Ahnung, vielleicht nichts!“ beantwortet, eine Schreibblockade unterstellt. Allenfalls gönnt man ihm noch die verharmlosende Beschönigung, er ziehe sich für einige Zeit „zu Studienzwecken“ zurück.

Freilich werden hartleibige Verfechter des Rödelns und Machens und Schöpfens und Erzeugens, der Fließbänder und der Akkumulation von Geld, Müll und Elend einwenden: Ach, der Sailer! Da fällt ihm mal eine Woche lang nichts ein, schon schraubt er daraus mal wieder so eine Tirade zusammen!
Da mögen sie schon recht haben. Das macht aber nichts, ätsch.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

 

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