Frisch gepreßt #348: Wilco „Star Wars“

Selige Frühneunziger: als man das abendliche Tresengeplauder allen Ernstes dem Thema widmen konnte, was die Unterschiede zwischen „Alternative“ und „Independent“ waren. Da wurden steinerne Standpunkte vertreten: das eine Rock, das andere Pop, beides jedenfalls nicht bei „etablierten“ Plattenfirmen, hier mit Philosophie, dort mit Stil, tiefgängig bzw. stolzbewußt oberflächlich, anders sowieso ohne Frage.

Zusammengefaßt ließe sich rückblickend sagen: Independent war, wer auf einem „unabhängigen“ Label erschien (das im Zweifelsfall längst von einem Major aufgekauft oder überhaupt erst gegründet worden war), klassische Songs mit großen Melodien schrieb und durch das bloße Überqueren einer Straße in persona bei Tageslicht einem Heer von (oft nur noch gefühlten) Teenagern Anflüge orgasmischer Massenhysterie verschaffte, stets jedoch mit einer bezaubernd anmaßenden Attitüde der Abgrenzung zu Vorläufern (Beatles und folgende) und sowieso zu allem, was „Rock“ war. „Rock“ nämlich waren jene Institutionen, die seit zehn, manchmal fast zwanzig oder noch mehr Jahren sporadisch millionenteuer aufgeblasene Mega-Alben in die Welt setzten und aussahen wie Kollegstufensprecher Mitte dreißig: Matte, Bart, lässiges Indienhemd, hautenge Glockenhose. Die fuhren im Rolls Royce herum, stritten vor Gericht jahrelang um Kleinigkeiten und waren insgesamt vollkommen aus der Zeit gefallen. Oldies, lebende Fossilien, Dinosaurier, deren möglicherweise relevante Wirkungszeit eine Generation zurücklag, die aber von den Titelseiten der Magazine nicht wegzukriegen waren. Sagen wir: Pink Floyd, Genesis, Eagles, Deep Purple.

„Alternative“ war die andere, diametral unterschiedliche … ähem: Alternative. Hier wirkten wenig gepflegte Männer in Karohemd und Lederstiefeln, gezeichnet von beiderseitiger Verweigerung (Niemand will uns! Niemand versteht uns! Dufte!), im Säurebad endloser Landstraßentourneen von jedem Glamour gereinigt, die sich von den alten Heroen vor allem dadurch unterschieden, daß sie kein Geld für Studios hatten, nicht sonderlich gut spielen konnten und aus beidem eine Tugend machten: Wie, wir haben keine richtigen Songs? Richtige Songs sind Mainstream, Baby! Wir verzichten absichtlich darauf!

Wilco galten mal als Verkörperung von „Alternative“ und gelten in mancher Hinsicht auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrer Gründung (oder Umfirmierung aus Uncle Tupelo nach dem Abgang von deren Sänger) als irgendwie „anders“, eigen, außenseitig. Das beruht wahrscheinlich auf einer Reihe populärer Mißverständnisse, ist aber nun mal nicht mehr aus der Welt zu schaffen und soll uns daher nicht weiter scheren, weil: Alternative Rock ist schon länger Mainstream, als die Beatles brauchten, um ihr Gesamtwerk zu schaffen, und Wilco (von Anfang an bei einem der größten und traditionsreichsten Musikkonzerne der Welt zu Hause) drehen schon immer beiden Fraktionen eine Nase. Sie machen Reklame für Apple und VW, werfen aber mit literarischen und anderswie „relevanten“ Begriffen und Anspielungen um sich, kontern jeden noch so berechtigten Versuch, sie zwischen Eagles und Jefferson Airplane zu lexikalisieren, mit einem geschickt inszenierten Schachzug in Richtung Zwielicht und Party-Talk-kompatible Intellektuello-Relevanz. Ein höchst gelungener Seiltanz in der Tat, aber lassen wir uns nicht ablenken.

Ihr neuntes Album verkörpert so ziemlich alles, was die Band ausmacht, im Guten wie im Schlechten: Es ist schön und leicht zu hören, zugleich interessant und spannend, voll von überraschenden Wendungen, aber auch ultratraditioneller Rockmusik, aufgeladen mit gefühltem Anspruch und Bedeutung, dabei aber frei von wirklich genialen oder auch nur originellen Kompositionen, an die man sich fünf Minuten nach dem ersten Hören noch erinnert (verwirrenderweise erkennt man sie beim zweiten Hören dennoch sofort wieder). Es erinnert mal an den John Lennon der „Imagine“-Jahre („More …“), mal an ein B-Seiten-Demo der Glitter Band, das mangels catchy Chorus in der Schublade blieb („Random Name Generator“), oft an beides gleichzeitig. Es ist offenbar bewußt „billig“ produziert, läßt unter den Kofferradio-Gitarren und Pappkarton-Schlagzeugen aber den Aufwand ahnen, der nötig war, um diese Simplizität zu erzeugen. Es wirkt belanglos und macht neugierig.

Mit anderen Worten: ein Album, über das man mehr schreiben und sprechen als es hören wird. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt, um die eingangs erwähnten Diskussionen mit einem Vierteljahrhundert Verspätung abzuschließen und die Pole zu verschmelzen. Vielleicht aber auch nicht, wer weiß, wer will’s wissen?

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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