Belästigungen 18/2015: Wer hier kein Flüchtling ist, der hebe die Hand!

Ich habe in meinem Leben eine ganze Reihe von Menschen kennengelernt, die in irgendeiner Hinsicht das sind oder waren, was man heutzutage als Flüchtlinge bzw. Migranten bezeichnet. Der Unterschied übrigens ist kein geringer: Wer vor Krieg, Vernichtung, Hunger, Elend flüchtet, ist laut Genfer Flüchtlingskonvention kein Flüchtling, sondern ein Migrant und damit ohne Rechtsanspruch auf Asyl.

Das klingt ein bisserl trocken, drum sei es kurz illustriert: Ein beliebiger Bewohner eines beliebigen Landes, das von (zum Beispiel) deutschen Konzernen ausgebeutet und dessen Umwelt dabei so gründlich zerstört wird, daß es als unbewohnbar gelten kann, hat kein Recht auf Asyl im Land der Täter und Profiteure, weil er (da sind die Grenzen ausnahmsweise fließend) Elends-, Umwelt- oder Wirtschaftsflüchtling und damit kein richtiger Flüchtling ist. Schießt man ihm im Rahmen eines Krieges mit deutschen Waffen die Familie tot, zerbombt sein Haus und droht ihn selbst totzuschießen (möglicherweise auch bloß „kollateral“), ist er ebenfalls kein richtiger Flüchtling – dafür müßte er erst einmal ganz persönlich „verfolgt“ werden, und zwar aus ganz spezifischen Gründen, zu denen die Gefahr des Verhungerns und Totgeschossenwerdens nun mal nicht gehört.

Deshalb gibt es so viele Flüchtlinge, von denen höchstens zwei Prozent „richtige“ Flüchtlinge und alle anderen „Wirtschaftsflüchtlinge“, „Asylbetrüger“ und sonst was sind, wogegen „Bild“ hetzen darf, worauf Politiker schimpfen dürfen, was „Patrioten“ und „Asylkritiker“ anzünden dürfen, was Polizisten und Soldaten mit Gewalt aus dem Land befördern und irgendwo abladen dürfen, was man notfalls auch einfach ersaufen oder anderweitig verrecken lassen darf, damit es bloß nicht darum bittet, deutsches Wasser trinken und deutsche Äpfel essen zu dürfen: Wo bitte schön wären denn da die „Verfolger“ (wenn man mal deutsche Politiker, Hetzblätter, „Asylkritiker“ und Vollzugsbeamte außer acht läßt)? Und haben diese Leute überhaupt eine „politische Überzeugung“ (oder notfalls eine „Hautfarbe“), wegen der man sie „verfolgen“ könnte (wie etwa deutsche Altnazis, die deshalb nach dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich „richtige“ Flüchtlinge waren bzw. sind)?

Auf solcherlei Definitionen und Begriffe – darüber sind wir uns hoffentlich einig – sollte man als vernünftiger Mensch pfeifen. Wer flüchtet, ist ein Flüchtling, basta. Und weil ihm dieselbe UN in einer anderen Konvention (die sogenannten „Menschenrechte“) immerhin ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugesteht, darf er flüchten, wohin er will oder muß, und wer ihn daran hindert oder gar körperlich versehrt (sei es durch Zwangsmaßnahmen bei der „Abschiebung“, sei es durch die Errichtung von Zäunen, sei es durch bloße Untätigkeit und angeblich hilfloses Zuschauen), der ist ein Verbrecher, basta.

Ich kannte und kenne, wie gesagt, mancherlei Flüchtlinge. Einen Nigerianer, der in München studierte, weil er das in Nigeria nicht durfte. Einen Österreicher, der seit seinem dritten Lebensjahr in Bayern lebte, nach vierzig Jahren wegen schlechter Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausgewiesen wurde und aber nicht ging, sondern fortan als illegaler Obdachloser auf der Straße und im Wald vegetierte. Ostdeutsche, denen man zugunsten westdeutscher Kapitalbesitzer die Lebensgrundlage entzogen hatte. Einen Südafrikaner, der von dort nach Österreich, München, Italien, Australien, Indien, Bali flüchtete, wegen einer nicht genehmen Liebesbeziehung „abgeschoben“ wurde, schließlich in London landete und meinte, er wolle endlich nach Hause, wisse aber nicht, wo das sei. Einen Münchner, der es mit dem Geschäftemachen übertrieben hatte und aus Furcht vor Strafverfolgung nach Hongkong flüchtete, weil sich die Leute da bekanntlich sowieso williger ausbeuten lassen (als er es dort erneut übertrieb, „schob“ man ihn nicht etwa „ab“, sondern steckte ihn ins Gefängnis).

Ich kannte einen ehemaligen Sowjetsoldaten, der nach dem Krieg in Deutschland verlorenging und in einem Münchner Wohnheim landete, von wo man ihn nicht mehr wegbekam, weil er keine bekannte Sprache sprach und verstand und möglicherweise taubstumm war. Ich kannte einen Ami, der es für eine tolle Idee hielt, in Kuba Pornohefte zu verkaufen. Die freundlichen kubanischen Behörden beschlagnahmten seine Ware und ließen ihn laufen, gaben ihm allerdings kein Geld für den Rückflug; seitdem streunert(e) er am Malecon herum.

Ich weiß von dutzenden Leuten, die aus München flüchten mußten, weil sie hier keine bezahlbare Wohnung fanden oder weil sie von Arbeitsvermittlungsbehörden oder „Arbeitgebern“ zum Wegziehen gezwungen wurden; ich kenne auch Leute, die nach München flüchten mußten, weil es anderswo noch wesentlich schlimmer ist. In ganz Bayern, Deutschland, Europa wimmelt es nur so vor Zwangsmigranten, die, vom Kapitalismus entwurzelt, von einer Kurzzeitbleibe zur nächsten hetzen und sich teilweise auch noch einbilden, sie täten das freiwillig.

Kein ganz neues Phänomen: Mitte des 19. Jahrhunderts wanderte halb Irland nach Amerika aus, um nicht zu verhungern (man stelle sich vor: zwei Millionen „Wirtschaftsflüchtlinge“ in vier Jahren!). Ein nicht geringer Teil meiner eigenen Familie übrigens flüchtete zu jener Zeit ebenfalls über den Ozean, aus demselben Grund. Mein Urgroßvater hingegen wurde 1918 von Freikorps-Faschisten in einer Laimer Kiesgrube „standrechtlich“ erschossen, weil er Milch „geschmuggelt“ hatte – immerhin war er wohl eine Art Kommunist, hätte also Chancen gehabt, als „richtiger“ Flüchtling anerkannt zu werden, wenn es denn eine Fluchtmöglichkeit gegeben hätte.

Und wer länger irgendwo bleibt, kommt da noch lange nicht her. Schon gar nicht aus Bayern, das seit gut 8.000 Jahren ein Ein- und Auswanderungsland par excellence ist: Bandkeramiker und Glockenbecherleute (nicht zu verwechseln mit heutigen Glockenbachhipstern!), Hallstätter, Kelten, Walsche, Boier, Germanen, Romanen, Markomannen, Langobarden, Alemannen, Ostgoten, Thüringer, Franken, Böhmen, Mährer, Schlesier, Banater, Donauschwaben und alle möglichen anderen kamen und gingen – das heißt: flüchteten und wurden vertrieben, und von manchen davon weiß man nicht mal, ob es sie wirklich gab, wer sie waren und wohin sie verschwunden sind. Eine wüstere Mischpoke von Flüchtlingen aus sämtlichen Himmelsrichtungen als das, was man heute „Bayern“ oder „Bajuwaren“ nennt, ist überhaupt nicht vorstellbar. Die einzigen, die irgendeine Art von „Ureinwohnerschaft“ für sich beanspruchen könnten, wären die Neandertaler, und von denen stammt wahrscheinlich nicht mal unser Innenminister ab.

Ich habe in meinem Leben buchstäblich unzählige Flüchtlinge kennengelernt. Und Nachfahren von Flüchtlingen, die wiederum zu Flüchtlingen wurden oder andere zu Flüchtlingen machten. Und wenn mich jemand fragt, ob ich nicht auch andere Menschen kenne – keine Flüchtlinge, ohne den geringsten „Migrationshintergrund“ –, dann fällt mir dazu nur eine Gegenfrage ein: Andere Menschen? Was für andere Menschen sollte es denn geben?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

 

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