Thunders, Johnny (ein Lexikoneintrag)

Trug die höchsten (ernstgemeinten) Absätze der Menschheitsgeschichte und den wunderbarsten Künstlernamen, den man sich für einen Popstar erträumen könnte; dabei hieß er schon in Wirklichkeit Johnny Genzale und sah nicht einfach nur gut aus, sondern strahlte mit seinem Gesicht solche Mengen an verdorbener Unschuld, Einsamkeit, Tragik, Rebellion und Sex-appeal in die Welt hinein, daß daneben ein Würstchen wie James Dean wie ein behaarter Salzstreuer wirken mußte. Johnny Thunders war schon Gott, bevor er auch nur einen Finger an die Saite legte.

Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, was er mit den Saiten anstellte. Hatte sich der Beitrag der Glamrocker zur Gitarrengeschichte bis 1973 im wesentlichen darauf beschränkt, Chuck-Berry-Riffs auf Düsenjet-Volumen aufzupumpen und ein paar scheppernde Harrisonereien zwischen die Refrain-Wiederholungen zu brettern (damit keine Ekstase-Pause entstehen konnte, während Noddy Holder sein Nebelhorn mit Neuluft füllte bzw. Marc Bolan seine Haare schüttelte bzw. Brian Conolly zur Herzmassage hinter die Bühne mußte), so wurde mit dem Erscheinen der ersten New-York-Dolls-Platte plötzlich und schlagartig klar, daß das Leben in der Großstadt kein Halligalli-Ferienlager und Rock ’n‘ Roll weder der Nebeneingang ins Opernhaus noch eine vorzüglich am friedlichen Lagerfeuer genossene Feldfrucht ist. Johnny war nicht nur „The Wild One“, er verband seine private Haltlosigkeit und Abenteuerfreude mit einer tiefen Liebe zu den schwarzen Wurzeln der weißen Krachmusik und ihrer dunklen Essenz (und einer nicht genug zu lobenden Abneigung gegen alle Sorten von Effektgeräten, Verzerrern und ähnlichem Klimbim). Als Radikalkur versuche man den (erst viel später veröffentlichten) Gulli-Blues „Down, Down, Downtown“: Mehr stolzer Schmutz und hoffnungslose Sehnsucht pro Quadrattakt war vorher nie und nachher kaum je zu hören (und wenn Onkel Strubbelbart nun einwendet, der Kerl habe doch ausgesehen wie die Original-Torte und sowieso so richtig gar nicht spielen können, wenden wir dagegen, daß Jimmy Page schon gleich ganz zu Anfang so begeistert von Johnnys wütend heulender Brachial-Dramatik war, daß er ihn zu seinem einzigen legitimen Erben erklärte und das Bürschchen auch gleich zum Jammen einlud – Johnny brachte neben seiner Gitarre eine großzügige Menge Pulver mit, das Jimmy gar nicht gut tat; aber das ist eine andere Geschichte. Oder eben nicht, denn es geht das Gerücht, Pete Townshend und Eric Clapton hätten sich jeweils nur deshalb heroinsüchtig gemacht, um einmal im Leben spielen zu können wie Johnny Thunders, vergeblich selbstverständlich).

Leider tat ihm selber die lebenslange Liebe zum Lähmungsmittel auch nicht immer gut. Bei den New York Dolls hatte er mit Album eins seine Wutschmerz-Melodie-Arbeit praktisch getan: „Personality Crisis“, „Subway Train“, „Jet Boy“, „Vietnamese Baby“, „Bad Girl“, „Lonely Planet Boy“ … nehmen wir vom Zweitaufguß „Too Much Too Soon“ noch „Babylon“ und das wahrhaft titanische (aber schon lange vor der ersten Dolls-Platte im Repertoire befindliche) „Human Being“ hinzu, so ist die Sache rund, komplett und gut, und Johnnys Gitarre singt für die Ewigkeit. Die restlichen Jahre seines Lebens verbrachte er damit, in die Geschichte einzugehen als zähester, erbärmlichster, heroischster Junkie aller Zeiten. Manch funkelnder Rohdiamant fiel dabei ab (vornehmlich auf dem Heartbreakers-Album „L.A.M.F.“, obwohl da die satanisch sanfte Ballade „You Can’t Put Your Arms Around A Memory“ gar nicht drauf war), aber zum Schleifen hatte Signore Genzale nicht mehr den Nerv, verzettelte sich statt dessen auf sporadisch rausgeleierten Platten in anrührenden, aber musikalisch weltraumleeren Akustik-Aufkochungen, zog ansonsten als todtraurige Karikatur seiner selbst durch die Keller der Welt und bewies mit jeder neuen Live-Platte, daß es ihm schon wieder ein bißchen schwerer fiel, von „Born To Lose“ bis „Chinese Rocks“ seine alte honiggelbe 58er Les Paul T.V. einigermaßen festzuhalten, während Thunders-Fan Joe Perry mit der New-York-Dolls-Tribute-Combo Aerosmith die rohen Riffs auf Marktformat schliff und von Hanoi Rocks bis Guns N’Roses buchstäblich tausende von Dolls-Imitations-Kapellen den schmerzhaften Wahnsinn als billigen Jahrmarkts-Stunt nachklapperten, ohne von einem Geniestreich wie „Personality Crisis“ auch nur träumen zu dürfen.

Unterbleiben aber soll das übliche Branchengeplapper von all dem Zeug, das angeblich ohne „sein Wirken“ schon gar überhaupt „undenkbar“ gewesen oderund noch sei. Ist ja alles Quatsch: Ohne Johnny Thunders‘ Gitarrenspiel ist die gesamte Popmusik des 20.Jahrhunderts und der Folgejahre ohne weiteres denkbar – irgendeiner wäre schon drauf gekommen, aus Versehen oder im entsprechenden Zustand. Aber eine anständige Glamrock-Jugend, eine zünftig „ruinierte Erziehung“ (Morrissey), nein, die wäre ohne ihn nicht möglich gewesen; und das ist ja auch viel mehr. Dafür verzeihen wir dem bekanntermaßen warm- und weichherzigen, in späteren Jahren bisweilen massiv gefühlsduseligen und (mindestens) dreifachen Italopapa sogar, daß er sich im Zustand finaler Umnachtung von den Toten Hosen ins Studio schleppen ließ (es ging ja bloß ums Taschengeld). Und daß Thunders die ganze Geschichte gleich danach stilgerecht zu Ende brachte, indem er sich am 23. April 1991 in einem Schmuddelhotelzimmer in New Orleans sehr böse, qualvoll und sinnlos umbringen ließ, ohne selbst zu wissen und, logisch, irgendwem zu verraten, daß ihm der Krebs sowieso bloß noch ein paar Wochen Zeit gelassen hätte – dafür weinen wir ab und an beim Wiederhören eine große Träne.

geschrieben als Gastbeitrag für Michael Rudolfs definitives und in allen Zweifelsfällen maßgebliches Gitarristenlexikon „Shut Up And Play Your Guitar“

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen