Belästigungen 07/2015: Schab an der Tapete und rette die Welt (und hör nicht auf den Teebeutel)!

Mein Teebeutel hat heute früh zu mir gesagt: „Du musst für etwas leben, dass (sic!) größer ist als du.“ Normalerweise ist es mir herzlich egal, was mein Teebeutel so plappert, schließlich plärren heutzutage die meisten Gegenstände, die einem im Laufe eines Tages über den Weg laufen, irgendwelche Botschaften in die Welt. So was blende ich automatisch aus.

In diesem Fall bin ich hängengeblieben. Vielleicht war ich zu früh aufgestanden und im frühvormittäglichen Dunzelzustand der entsprechende Mechanismus in meinem Gehirn noch nicht aktiviert, vielleicht war es auch der heutzutage ameisenmäßig über den gesamten landesweiten Textausstoß verbreitete Neusprechblödsinnsfehler, der sich wie ein fieser Spreißel in meine Aufmerksamkeit gebohrt hat.

Egal. Jedenfalls begann ich zu überlegen. Zwar ist die Einbildung, es gebe etwas, was größer ist als man selbst und wofür man zu leben (und notfalls zu sterben) habe, die zentrale Stützkonserve sämtlicher Faschismen, aber vielleicht läßt sich, wenn das halt nun mal sein muß, irgendwas finden, was das Dafürleben tatsächlich wert wäre? Ein Gott? eine Firma? die Gaucksche Supermarkt-„Freiheit“? Nö, eher nicht.

Wie wär’s mit der Grammatik? fragt mein Teebeutel mit einem fröhlichen Grinsen. Ein plausibler Vorschlag, aber wenn ich nun minimalerweise loszöge, um mit flammendem Tipp-Ex-Schwert sämtliche falschen Doppel-s-„dass“e aus der Welt zu merzen, käme ich höchstens bis zur Ecke Herzog-/Belgradstraße, ehe ich erschöpft zusammenbräche und zugeben müßte, daß die Grammatik größer als ich, die Blödschwätzerei jedoch unendlich viel größer als die Grammatik ist. Sowieso bin ich für exzessive Rechthabereikampagnen viel zu faul, und außerdem: Es sind zumindest für den Rest meines Einzellebens genug schöne Texte mit intakter Grammatik verfügbar, und wenn doofe Texte von der Karies der Reformschreiberei bis zur Unverständlichkeit zerfressen werden, sollte einen das eher freuen als grämen.

Aber, mahnt der Teebeutel, man kann doch nicht den lieben langen Tag sonnenbaden, schrulliges Zeug zusammendenken, flanieren, linksradikale Rockmusik hören und nebenbei in milder Muße am Ewigkeitswerk Wohnungsrenovierung herumbasteln, indem man quadratzentimeterweise alte Rauhfasertapeten von der Wand schabt! Während draußen in der Welt zum Beispiel das Klima zerpludert und die NATO den Krieg gegen Rußland vorbereitet!

Ja nun, auch das mag sein, und ohne Zweifel ist sowohl das Klima als auch der mythische Weltfriede (der meines Wissens zuletzt einige Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung gesichtet wurde, was aber auch am Mangel an Aufzeichnungen oder Menschen liegen kann) größer als ich. Aber wie „lebt“ man „für“ das eine oder den anderen? Soll ich etwa in diese seltsame Partei eintreten, die einst behauptete, die Umwelt schützen zu wollen, und heute mit diversen „Energiewenden“ und Grünen Wachstümern dafür sorgen möchte, noch schneller und effektiver ein menschenfeindliches klimatisches Katastrophentheater zusammenzudröseln, und in der sich dazu noch die derzeit schlimmsten Kriegshetzer außerhalb des US-amerikanischen Konglomerats von Waffenherstellern und Neocon-Fanatikern tummeln (weil sie als alte Maoisten schließlich schon seit einem halben Jahrhundert überzeugt sind, daß Rußland das Reich des Bösen ist)? Soll ich mich bei Twitter anmelden und dem rund um die Uhr tobenden Sturm von Stuß auch noch ein paar aufrufende Zeilen hinzufügen, die ebensowenig jemand liest wie die Trilliarden anderen, die nicht von Boris Becker oder Kai Diekmann stammen?

Oder soll ich mich als Sandwichmann an den Autobahnrand stellen und mit einem einprägsamen Slogan (etwa „Spart mehr Sprit!“) dazu beizutragen versuchen, daß dieser Irrsinn noch ein paar Jahre länger so weitergehen kann? Auch keine gute Idee, schließlich bin ich entschieden dafür, die gesamten Erdölvorräte des Planeten so schnell wie möglich abzufackeln, damit endlich Ruhe ist, und zwar möglichst noch bevor den Anführern der Mobilitätsterroristen was einfällt, womit sie auch ohne Benzin weiterrasen können. Dafür zu werben, zu prangern und Ein-Mann-Menschenketten zu bilden wäre aber ebenfalls zwecklos, weil es mit Sicherheit falsch verstanden würde und ich dann in endlosen „Talkrunden“ vergeblich versuchen müßte, das Phrasengeschwafel von Hans-Werner Sinn, Arnulf Baring und Karl Lauterbach zu unterbrechen, um „meinen Standpunkt darzulegen“, wofür ich am Ende wahrscheinlich auch noch Unterstützung von Menschen bekäme, mit denen ich nicht das geringste zu tun haben möchte.

Und nicht zuletzt ist meine Wohnung zwar kleiner als die angebliche Welt, aber zweifellos größer als ich. Und wer Tapeten abschabt, kann derweil nicht in ein Auto steigen, einem sogenannten Ziel entgegenröhren und dabei Giftgas ausstoßen. Und eine schönere Wohnung macht die Welt schöner; zwar nur für die, die drinnen sind, aber immerhin. Und wer das Tapetenabschaben nur unterbricht, um in der Sonne zu baden und durch die Gegend zu flanieren, hat keine Zeit, zu einem Krieg hinzugehen. Und wer sich dabei mit linksradikaler Rockmusik volldröhnt, hört zumindest die Befehle, Parolen und Kommandos nicht, die ihm die akustischen „Medien“ entgegenbrettern.

Da schweigt er, der Teebeutel. Und die Welt tut es ihm nach, zumindest vorübergehend. Wie schön

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen