Frisch gepreßt #333: Belle & Sebastian „Girls In Peacetime Want To Dance“

B. ist ein zartes Mädchen. „Pflänzchen“ sagen manche zu ihr. Sie mag mehlige Pastellfarben, samtige Stoffe, perlendes Sonnenlicht auf der Wasserschale am Fenster, zarte Wolken am Morgenhimmel, wenn sie fast lautlos vor sich hin summend die eosinrot aufatmenden, menschenleeren Straßen nach Hause flaniert, zu ihrem Kämmerchen unter dem Dach in einem kleinen Haus am Stadtrand. Von dessen kleinem Fenster aus blickt B. auf die Skelette leerstehender Lagerhallen, in der Ferne schimmert die Autobahn wie ein böser, röhrender Fluß. Meist aber hört B. dessen Röhren nicht und sieht ihn auch nicht; dann sitzt sie mit geschlossenen Augen auf ihrem bonbonfarbenen Sofa und lauscht der Stimme von Stuart Murdoch, die ihr von der Welt und zarten Mädchen erzählt. Manchmal denkt B. dann an Sylvia Plath und fühlt sich wie unter einer Glasglocke.

So geht das seit … Jahren; aber was sind Jahre, wo doch Stuarts Stimme 2015 so klingt wie 1996 und die Sommerlandschaft auf dem Bild, das an B.s Blumentapete hängt, einen ewigen Sonnenaufgang in ihr Kämmerchen zaubert. Neulich ist B. sanft erschrocken (ein fast unhörbares „Huch!“), als sie in einer Zeitschrift las, das neue Album von Belle & Sebastian werde ganz anders als alles, was man von der Band kenne. „Elektronik!“ stand da drohend, „Neustart!“, „Experiment!“, „Abrechnung!“ und andere wilde Wörter, die auf B.s zart vernebeltes Pflänzchengemüt eine ähnliche Wirkung haben, als hätte sich Stuart Murdoch eine Glatze rasiert, „Du schaffst es!“ auf die Stirn tätowiert und fürs Dschungelcamp angemeldet.

Ja, wirklich: „Nobody’s Empire“ ist ein frappierend privater Bericht über Stuarts Ringen mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom. „The Party Line“ und das harsche „The Book Of You“ besitzen Elemente dessen, was man heute gerne als „Tanzmusik“ bezeichnet (weil es außer einem maschinellen Beat so gut wie keine Elemente besitzt), und als der ätherische Elektrorhythmus von „Enter Sylvia Plath“ B.s Glasglocke erschüttert, kräuselt sich ihre Stirn in bedenklicher Blässe. Aber gleich lächelt sie wieder, denn schon nach Sekunden erinnert der Song (!) ebenso wie die siebeneinhalb Minuten lang an- und abschwellende, zauberhaft rührende Discohymne „Play For Today“ eher an die Schwerelosigkeit der späten Roxy Music und die fließende Ewigkeitsmelodie des „No 1 Song In Heaven“ von den Sparks, den B. als kleines Mädchen so geliebt hat, weil er sie damals schon mit genau der gleichen zeitlosen Nostalgie erfüllte wie heute.

Auch „The Cat With The Cream“ und „The Everlasting Muse“ sind Songs von einer Art, wie sie niemand je von Belle & Sebastian gehört und erwartet hat; letzteres zieht sich mittendrin plötzlich den Jazz-Café-Pulli über den Kopf und wird kurzzeitig zum Karussellringelreihen fürs leicht angegammelte Vorstadtfrühlingsfest. „Perfect Couples erinnert an eine Melange aus fernöstlicher Tempelmusik, Tubeway Army und Gang of Four; da ist B. doch ernsthaft irritiert. Und selbst erwartbare Sonntagvormittagsballaden wie „Ever Had A Little Faith“ sind durchzogen von überraschenden kompositorischen Strukturen.

Zweifellos sind das Experimente, aber B. stellt mit einem zufriedenen Lächeln fest, daß sie im Gegensatz zu 99 Prozent aller verzweifelten „Neuerfindungen“ anderer Bands allesamt vorzüglich gelungen sind – vielleicht einfach deswegen, weil sie eben nicht in einer Sackgasse unternommen werden, sondern auf einem weit offenen Feld zwischen Skeletten von Industrieruinen, ziellosen Fernstraßen und einem kleinen Haus, in dem B. selig in ihrem Kämmerchen unter dem Dach sitzt und sich freut, daß Stuart sie weder erschrecken noch herausfordern will. Sondern ihr nur mal was anderes zeigen, ein paar Seiten im Bilderbuch ihres Lebens, die sie noch nicht kennt.

Und sowieso ist da ja noch Stuarts (und Sarah Martins) Stimme, die immer Stuarts (und Sarahs) Stimme bleiben wird, und so schließt B. die Augen. Läßt sich entführen in diese unbekannte, schillernde neue Welt, die ihr doch irgendwie vertraut ist. Und stellt fest, daß ihre Glasglocke plötzlich fast von Horizont zu Horizont reicht und weit hinauf in den Himmel.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen