Frisch gepreßt #319: Ed Sheeran „X“

Dem Autor dieser Zeilen ist eine gewisse Monomanie zu eigen, die gelegentliches Einschreiten erforderlich macht. Zum Beispiel wenn ein neues Album von einer seiner bevorzugten Brachial-Radau-Romantik-Proleten-Combos erscheint (in diesem Falle: die zweifellos großartige, aber nicht jedermann und Mami und Papi zumutbare Band Howler): dann bringt er es fertig, Wochen und Monate, ja einen ganzen Sommer lang nichts anderes mehr zu hören und aufzulegen, und zwar in einer derart dringlichen Vehemenz und missionarischen Lautstärke, dass irgendwann die Nachbarn das Überfallkommando alarmieren und er selbst mit flatternden Augenlidern und zerfransten Ohren nicht mehr weiß, wer und wo er ist und warum.

Dann kühlt er sich ein bisschen runter, und schon geht’s wieder weiter. Und dann muß man einschreiten, weil solcherart Kulturgenuss der ledernsten Seele und ihrem sozialen Umfeld nicht zuträglich ist. Man könnte ihm erklären, dass es auch noch andere Musik gibt, zum Beispiel einen britischen Singer/Songwriter, der mit vierzehn sein erstes Album aufnahm und jetzt, mit dreiundzwanzig und seinem neuen Album dreiundzwanzig Millionen Herzen von Vierzehnjährigen brechen wird. Man könnte hinzufügen, dass der Bursche in der Castingshow „The Voice Of Germany“ aufgetreten ist, daraufhin einen Top-ten-Hit hatte, bei der Schlussfeier der Olympischen Spiele 2012 mit Leuten von Pink Floyd und Genesis „Wish You Were Here“ gespielt hat, Stevie Wonder sehr mag und ein Lied über ein Legohaus und ein anderes für einen Hobbit-Film geschrieben hat. Dann wird der Autor dieser Zeilen ein Gesicht machen wie ein Garagentor bei einem Hagelsturm und ein Mantra anstimmen, um das Erscheinen der neuen Platten von Morrissey und den Manic Street Preachers zu beschleunigen.

Man könnte ihm aber auch erzählen, dass der junge Mann gar nicht so blöd ist, schon als Kind Van Morrison und alte Stax-Platten (und zwar die richtigen) geliebt hat, zwar noch im schlimmsten Liebeskummer enorm freundlich klingt, aber gelegentlich zwei Satteltaschen voller Soul an seine Stimmbänder schnallt, dass er vorzüglich, wenn auch nicht so dreckig wie einst Jamie T., zur Akustikgitarre rappen kann, von Sex, Suff und Drogen singt, ohne dass Mami und Papi das überhaupt mitkriegen, dass er ab und an regelrecht zornig werden kann, erstaunlich witzige Texte schreibt und seine Stevie-Wonder-Obsession dankenswerterweise weitgehend auf die Phase beschränkt, als der noch gut und fast cool war.

Dann klappt der Autor dieser Zeilen (er ist ja ein höflicher Mensch) das Garagentor vielleicht wieder zu und erklärt sich bereit, mal reinzuhören in den vermeintlichen Mainstream-Weichspülkram, um sich (er ist ja ein kritischer Geist) in knappen Worten zu äußern, die die Zielgruppe an der Supermarkt- und Tankstellenkasse sowieso nicht kratzen. Geben wir ihm ein paar Minuten (zwinker).

Es könnte nämlich durchaus sein, dass er hängenbleibt, nach dem schmusig-nüchtern-melancholischen „One“ hineinrutscht in „I’m A Mess“ und das unergründlich interessant und spannend findet, wie sich da und hernach zusehends die Grenzen auflösen zwischen richtig coolen Rap-Couplets, sommerlich dahinschwebenden Rhythmen, Teenie-WG-Problematiken und Sehnsuchtssingen, zwischen Autoradio, Club und Eisdiele, zwischen merkwürdig angenehmem Kommerzgesums, entwaffnend kitschfreien Lebensweisheiten zu ewig brennenden Themen wie Weinen („Even My Dad Does Sometimes“), Liebeskummer, sehnsüchtigen Erinnerungen sowie Urlaub am Mittelmeer und Seitensprüngen auf abseitige Felder, auf die sich die Backstreet Boys bei aller Reife in zehn Jahren noch nicht wagen werden.

Dann wird er sich vielleicht ein bisschen schämen, und sicherlich fällt ihm dies und das Abfällige ein, mehr generell und allgemein kulturkritisch, aber das haben wir ja geahnt, und warten wir’s erst mal ab. Ich glaube nämlich, er lächelt schon ganz freundlich, der Autor dieser Zeilen …

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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