Belästigungen #426: Wenn (und wieso) das lüderliche Gesindel zur Nachtzeit lurpft …

Wichtigster Jahresend- oder -beginnvorsatz für den umsichtigen, auf das Leserwohl bedachten Kolumnisten: Nie mehr einen einzigen Lästerartikel über die deutsche Bahn! Das nämlich – das Abfassen von Lästerartikeln über die deutsche Bahn – ist ungefähr so originell und interessant, wie wenn der Pfaffe von der Kanzel den Deibel einen rechten Tunichtgut heißt.

Daß die deutsche Bahn ein Saftladen ist, dessen einziger Zweck darin besteht, milliardenteure Löcher unter die schwäbische Krume hineinzubohren, in die das beschauliche Stuttgart dereinst ebenso hineinsinken wird wie jetzt schon manch ein bäuerliches Anwesen im Umland, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Ebenso ist bekannt, mit welcher Vehemenz man dort Beschäftigungstherapie für Fahrplanphantasten betreibt, die durch die manische Erstellung immer noch schnellerer und lückenloserer „Fahrpläne“ – für die es Züge erst im Jahr 3000 und Bahnhöfe längst vorher längst nicht mehr geben wird – für ein Ausmaß an Ausfällen und Verspätungen sorgen, das die schlimmsten Befürchtungen aus den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs übertrifft.

Ja, das wissen wir alles. Wir wissen auch, daß die diversen „Bahnchefs“ der letzten Jahre – Dürr, Mehdorn, Grube – vor ihrem Amtsantritt nie etwas mit Bahn zu tun und lediglich „Chef“ gelernt hatten, ebenso wie die Verkehrsminister Ramsauer und Dobrint übrigens, deren Namen zwar entfernt an Kosebezeichnungen für frühneuzeitliche Dampflokomotiven erinnern, die aber ansonsten verkehrspolitisch ebenso schimmerlos sind, im Gegensatz zu den „Bahnchefs“ indes immerhin so höflich waren, ihr Gehalt nicht innerhalb von zwei Jahrzehnten zu verzwanzigfachen.

Des weiteren wissen wir, daß in den Zügen der deutschen Bahn nicht nur die Sitze immer kleiner und enger, sondern insgesamt weniger werden, damit sich das derweil unermüdlich aufgespeckte Menschengewürm ordentlich tümmelt, drängelt und mit Grippe ansteckt, während es mit einer halben Arschbacke auf dem Restmüllbehälter von Garmisch nach Kiel tuckert – was heute immerhin trotz der Stillegung zehntausender Kilometer Strecke und (seit 1994) der Hälfte aller Bahnhöfe (in den Gegenden, in die laut Statistik immer mehr Menschen fahren wollen) kaum länger dauert als 1918.

Aber über was soll man schon sinnieren, wenn man zwei Winternächte damit verbringt, zwischen München und der Toskana hin- und wieder herzufahren, in Florenz hocherfreut feststellt, daß die Italiener in ihrem ebenso idiotischen „Firenze 21“-Milliardenverbuddelungswahn wenigstens so langsam vorankommen, daß die stinkige alte Sala d’attesa für die Übergangszeit in einen modern illuminierten Wartebereich mit angeschlossenem (und aber traditionell geschlossenem) Beauty-Center verwandelt wurde, der aussieht wie ein Science-fiction-Raumschiff aus den 80ern? Wenn man da drin dann fröhlich rülpsend und keckernd mit Nastro Azzuro anstößt und den Pecorino teilt, bis eine höfliche Raumschiffsfrau in Uniform einem erklärt, man müsse die restlichen zwei oder drei Stunden bis zur verspäteten Abfahrt leider irgendwo zwischen Gleis, Glasscherben und (immerhin fröhlichen) Bettlern herumhängen, weil der einst stolz in öffentlichem Auftrag eingerichtete Wartesaal jetzt einer privaten Aktiengesellschaft namens NTV gehört, die im gesamten Bahnhof Ausgabestellen für Reklamezettel errichtet hat, auf denen für den selben Hochgeschwindigkeits-Fernstrecken-Blödsinn getrommelt wird, für den die deutsche Bahn seit Jahrzehnten unser Geld in schwäbische Erdlöcher und aus sonstigen Fenstern schmeißt?

Am besten über etwas ganz anderes. Zum Beispiel kann man dank der segensreichen Erfindung des Internets (von dem man sich nicht auszumalen wagt, es werde von der deutschen Bahn betrieben) endlich mal wieder wahllos in alten Büchern herumblättern und dabei in Franz Xaver Remlings „Geschichte der Bischöfe zu Speyer“ die haarsträubend faszinierende und belustigende Biographie von Damian August Philipp Karl Reichsgraf von Limburg-Stirum (1721–1797) entdecken, einem offenbar absolut maßlosen Streithansel, der sich mit Freund und Feind sowie seinem Domkapitel derart ausdauernd und vehement fetzte, daß sich das geistliche Gremium zu einschneidenden Maßnahmen gezwungen sah: Es „ließ den Koch desselben, in Mitte des Winters und vor Ablauf der Miethzeit, durch Ausheben der Thüre und Fenster aus dessen Wohnung im Fürstengarten verdrängen.“ Im Gegenzug verfügte August die Neuerrichtung einer Stadtmauer um Bruchsal, weil er „nicht ohne Befremden wahrgenommen“ hatte, daß dort „ohne einige Beschwerniß ein- und auspassiert werden könne und dahero dem lüderlichen und boshaften Gesindel, besonders zur Nachtzeit, gleichsam der Paß offen stehe“.

Über das äußere Erscheinen des Fürstbischofs berichtet Remling: „Seine Stimme war stark und durch lurpfende Gurgeltöne eigenthümlich.“ Aus Johannes Nasts „Teutschem Sprachforscher, allen Liebhabern ihrer Mutersprache zur Prüfung vorgelegt“ (1777) wissen wir: „Vile Menschen können das r nicht rein sprechen, und das heist man Lorpfen, oder Lurpfen.“ Aber das ist egal, denn während der mittlerweile greise Bischof auf der Flucht vor den wilden Horden der französischen Revoluzzer bereits zwei Testamente gemacht hat und korrespondierend immer noch tobt, er verbitte sich „für die Zukunft derley Gewäsche“ und lasse sich „ein für alle Male nicht am Narrenpfeile herumführen“, bis endlich am 26. Februar 1797 „ein Stickkatarrh die Auflösung herbei“ führt und er leider verscheidet – derweil sitzen wir endlich doch im vollkommen überfüllten Zug.

Und während die Reisegefährtin trotz qualvollem Gewimmel entschlummert, formt sich in meinem reisenden Gehirn auf traditionell wirr mäandrierende Weise ein kolumnistisches Lehrstück über Leben und Schicksal des Herrn Limburg-Stirum. Allerdings haben wir den Fehler gemacht, keine der schweinsteuren Liegen im furzschweißsudgesättigten Liegeabteil zu mieten, sondern ganz normale Sitze, und eine derartige Verweigerungshaltung muß bestraft werden; deshalb passirt in den folgenden Nachtstunden gefühlt alle zehn Minuten lüderliches und boshaftes Gesindel daher, um mit lurpfenden Gurgeltönen das Vorzeigen von wahlweise Fahrkarten oder Ausweisen oder beidem zu fordern, selbige zu betrachten und manchmal mit einem zwecklosen Zwackstempel zwackzustempeln, bis wir uns endlich nicht mehr am Narrenpfeile herumführen lassen und uns solche Beschwerniß, besonders zur Nachtzeit, verbitten.

Was antwortet darauf der Kerl, der momentan mit dem Zwackstempeln dran ist? „Hätten Sie eben im Liegewagen reserviert, hä hä!“
Tja. Und weil wir die Horden der Störenfriede leider nicht durch Ausheben von Thüren und Fenstern verdrängen konnten, ist aus dem schönen Vorsatz leider nichts oder vielmehr eine Kolumne über die deutsche Bahn geworden. Immerhin: die letzte, Ehrenwort.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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