Belästigungen #424: When we were young nobody died (ein Winteridyll)

Das Jahr neigt sich, und vor uns neigt sich das Land der Kante zu, an der das Wasser jetzt ruht, nachdem es einen Herbst lang leise flüsternd sich erinnert hat an die Stimmen der Menschen, die sommers hier lagerten und ihre Tage verdämmerten.

„Wie lang das her ist“, flüstert L, und sie klingt wie das Wasser.

Der Blick nähert sich dem Gras, auf dessen Spitzen sandkorngroße Kristalle von reinem Weiß das Gewese, das zu wärmeren Zeiten zwischen und auf den Halmen stattfindet, simulieren, indem sie zufällig eingefangene Sonnennadeln tanzen lassen. Unser Atem bildet abwechselnde Wolken, die aussehen wie Sprechblasen ohne Buchstaben.

„Nicht so lang“, sage ich, „paar Wochen?“

„Ewig“, sagt L.

Weil das Wasser schweigt, summen wir ein Lied: „With a start he was awoken /
From the middle of a dream /
He’s making movies in his head /
That never will be seen /
He’s holding Oscars in his hands /
And kissing beauty queens /
What might have been /
What might have been.“

Der Himmel leuchtet ultramarin, so grell und perfekt und unendlich, daß man sich wünscht, er hätte ein paar Falten oder Kratzer. Vögel stürzen sich in unwirklich weiter Ferne durch den Raum, und das Wasser schweigt.

„Ab wo wird der Himmel schwarz?“ fragt L und kneift die Augen zusammen.

„Überall“, sage ich. „Du mußt nur einen Punkt fixieren, genau einen Punkt.“ Dann, denke ich, siehst du, daß das Blau eine Illusion ist, die durch Streuung entsteht.

„Es gibt keinen Punkt“, sagt L und lacht in ihre Sprechblase hinein.

„Doch“, sage ich, und dann fixieren wir einen Punkt, der plötzlich schwarz wird, und je mehr der Blick hineinsinkt, desto größer und schwärzer wird er, während alles um ihn herum verschwindet. Endlich ist alles schwarz, und wir staunen, wie hell Schwarz sein kann.

„Astronauten, die auf die Erde herunterblicken, ändern ihre Einstellung zur Welt und zum Leben“, sagt L, die das in einem Film gesehen hat. „Sie werden bewußter, haben mehr Demut und Achtung, weil sie die großen Zusammenhänge verstehen.“

Das klingt so überzeugend, daß es falsch sein muß. Ich sage nichts, weil L das ebenso gut versteht.

„Andererseits“, sagt sie, „sähe dieses Jahr aus großer Entfernung aus wie ein kurzes, verschwommenes Huschen. Das ganze Leben, aus noch größerer Entfernung, wäre eine schnelle Folge von verschwommenem Huschen. Wie soll man Demut spüren ohne Einzelheiten?“

„Vom Weltall aus“, sage ich, „wirkt alles natürlich. Die schrecklichste Fabrik, der fürchterlichste Komplex von Atomanlagen bekommt etwas Erhabenes, Stilles, Ewiges, Ehrfurchtgebietendes. Das ist die Demut, die man in der Weltuntergangszeit braucht: Die Gewißheit, daß die Vernichtung göttlich und schön ist.“

Jemand ruft in der Ferne nach seinem Hund: „Hierher!“ Ich stelle mir vor, er könnte auch etwas anderes rufen. „Ultramarin!“ zum Beispiel. Dem Hund wäre das egal.

„Wie heißen diese komischen Blumen, die seit ein paar Jahren in allen Fenstern stehen?“ fragt L und löscht ihre halbgerauchte Zigarette an reinweißen Kristallen, die leise zischend vergehen.

„Schmetterlingsorchidee“, sage ich.

„Genau. Ich hab’ gehört, daß es davon vor ein paar Jahren nur ganz wenige gab. Inzwischen leben ungefähr zehn Milliarden von ihnen auf der Erde. In jedem Supermarkt, auf jedem Fensterbrett steht eine. Es gibt mehr Schmetterlingsorchideen als Menschen.“

„Vom Weltraum aus wird man davon nichts sehen“, sage ich.

„Vom Weltraum aus sieht man gar nichts“, sagt L, „nicht mal den See, der könnte auf einen Schlag verschwinden und durch einen Supermarkt voller Schmetterlingsorchideen ersetzt werden, kein demütiger Astronaut würde was bemerken.“

„Das ist der Fluch der Größe, Weite und Ferne“, sage ich, und L schlägt mir lachend ihren Handschuh auf den Kopf. „Du Scheißidiot“, kichert sie, „jetzt ist das Bild geplatzt. Ja, ein Astronaut sieht auch nicht, wie das Fußballspiel ausgeht. Daß Reichtum ein Verbrechen ist. Und wie du hier immer rumlümmelst und dieser Blonden nachglotzt.“

Der anbrechende Nachmittag macht ein Geräusch wie Schaum. Wir horchen an unseren Bierflaschen.

„Wir sollten nur im Winter Bier trinken, bei minus fünf Grad“, sagt L. „Das ist so geil, wenn es eiskalt im Bauch ankommt.“

„Und was machen wir im Sommer?“

„Im Sommer schießen wir uns ins Weltall und bewerfen die Erde mit Schmetterlingsorchideen und Fabriken. Vielleicht bemerken die da drunten was.“

Mittlerweile hat sich der Himmel verändert, ist jetzt von einem bleiernen Blaugrau, in dem sich alles entfernt und seine Zeit verliert. Über dem See treibt ein fast unsichtbar dünner Nebel, vielleicht von unseren Sprechblasen.

„Ich bin zu müde zum Gehen“, sagt L. „Bleiben wir einfach hier.“

„Das denkt sich das Jahr auch“, sage ich, „aber dann wäre es verloren, wie wir.“

Das Wasser schweigt. Im Frühling wird es wieder flüstern.

Wir stellen unsere leeren Flaschen auf eine Bank, von wo sie jemand mitnehmen wird, der vielleicht weiß, daß Reichtum ein Verbrechen ist, weshalb seine Demut von anderer Art ist als die des Astronauten, der ihn nicht bemerkt, während er von Gott und seiner Schöpfung quatscht.

Und dann gehen wir, unserer Wärme entgegen. Und einem neuen Jahr, das noch länger sein wird, noch unendlicher, noch ewiger.

„Bäh“, sagt eine Krähe, die uns von einem kahlen Nußbaum aus mißmutig betrachtet, vielleicht weil sie etwas ahnt, was wir nicht wissen wollen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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