Frisch gepreßt #303: M.I.A. „Matangi“

Es ist eine wilde, wirre Welt, in der immer alles gleichzeitig passiert und das zu neunzig Prozent unbewußte Bewußtsein einem Hagel von Signalen, Zeichen und deren gleichzeitiger Deutung und Auslegung ausgesetzt ist.

Wer sein Leben mit rebelliöser bis relevantoider Popmusik gestaltet, weil Sex, Drogen und schönes Herbstwetter ohne Popmusik keinen Sinn haben, bei dem ist dieser Hagel ein alles umfassender Tornado. Es klirrt, scheppert, dröhnt, rummst, brüllt, säuselt, zupft und wabert, und vergeblich sucht man nach Ordnungen oder Ordnungssystemen, bis man endlich kapiert, wie’s geht: Hineinfallenlassen in den Ozean der Geräusche und Zufallsbotschaften, untertauchen, schwimmen, treiben.

Man könnte mal eruieren, wie viele Aufnahmen von „wichtigen“ Künstlern der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in den letzten Wochen und Monaten neu erschienen sind. Also zum Beispiel: acht oder zwölf Pseudobootlegs von den Rolling Stones (das Hyde-Park-Konzert gleich zweimal in sogenannten „Formaten“), 63 neue BBC-Aufnahmen von den Beatles – wie lange braucht ein durchschnittlich behirntes Menschenwesen, um in diese Lawine von Mitteilungsdran einen Sinn hinein oder aus ihr herauszuhören?

So erklärt sich die Relevantoidität und der Reiz einer, nein: mehrerer Kunstrichtungen, die, anstatt zu filtern (wie das früher Radio-DJs zu tun pflegten, ehe man sie zu ferngesteuerten One-Liner-Aufsagern mit kommerziell programmierten Playlists degradierte), alles in einen Mixer (!) fließen- und es dem Zufall überlassen, was davon übrigbleibt. So gerät der Hörer des neuen Eminem-Albums neben vielen Selbstbezüglichkeiten und ungefähr je 20 Co-Produzenten und Gastauftritten im Vorbeirauschen in den Genuß von Dingen, mit denen er wahrscheinlich nie etwas zu tun haben wollte: „Life’s Been Good“ von Joe Walsh (Papa fragen!), „Time Of The Season“ von den Zombies und „Game Of Love“ von Wayne Fontana (Oma fragen!), „Ode To Billie Joe“ von Lou Donaldson (Geschichtslehrer oder Cypress Hill fragen!), „The Stroke“ von Billy Squier (am besten gar nicht fragen!) und sowieso Naughty By Nature, Beastie Boys etc. pp. – you name it, you got it, irgendwie.

Bei Mathangi Arulpragasam ist das ähnlich, aber auch ganz anders; ein Blick auf ihren Wikipedieeintrag macht klar: Dieser Vulkan an Klang, Stil, Politik, Mode, Botschaft, Psychologie, Aktivität und Ausdruck ist zu viel für einen Geist. Da muß nun doch ein Filter her, oder müßte, weil andererseits: Hey, es geht um Musik! Welche juristischen Streitereien wegen eines gestreckten Mittelfingers Miss Arulpragasam mit der National Football League ausficht und ob sie wirklich, wie die „Village Voice“ mal meinte, „ein veritabler Strudel von Diskurs zu höchstwahrscheinlich unlösbaren Fragen bezüglich Authentizität, Postkolonialismus und Dilettantismus“ ist – hach, müssen wir diesen Authentizitätsstrudel wirklich so lange aufbacken, bis nur noch Quark drin ist?

Ich erinnere mich dunkel, daß wir diese Diskussionen schon geführt haben, und zwar damals, als The Clash 1980 über die USA hereinbrachen und ein diffuses Gesamtgefühl von Aufbruch, Revolte, Verwirrung, einer Explosion widersprüchlicher und dadurch eventuell letztlich irrelevanter Zeichen erzeugten. Da hatten Soziologen und postmoderne Theoriewiederkäuer was zu tun; aber letztlich war’s egal: Das Gefühl war geil.

Und ich weiß, man wird mich auslachen und meine Einpackung in eine Zwangsjacke fordern, aber: „Matangi“ versetzt mich in dieselbe diffuse Gesamtstimmung wie „Sandinista!“ (mit modernen Klangmitteln – andererseits: etwas Moderneres als „Sandinista!“ wird es vielleicht nie geben), und wenn das sinnlos, verlogen, unauthentisch, plakativ, bigott, anbiedernd, kontraproduktiv, philisterhaft, hohl, scheinheilig und letztlich bloß ein bunter Sturm von Nichts ist – egal. Es ist geil; es ist wild und wirr, und alles passiert gleichzeitig. Es ist also: die Welt.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen