Belästigungen #416: Zwischen Weisheit und Inkonsequenz ist nur ein kleiner Riß

F hat mir erzählt, wie sie neulich über ihren Schatten gesprungen ist, der in diesem Fall allerdings weniger ihr eigener war als der einer kollektiven Verblödung, der wir alle manchmal verfallen. Sie habe eines ansonsten normalen Abends diesen Typen in der Kneipe gesehen und gespürt, wie ihr ganz seltsam wurde, und sofort seien die üblichen Gedanken durch ihr Hirn paradiert wie eine Schafherde über den Steg: Mal sehen, was er sagt/tut/ob er was sagt/tut. Ach, wie gerne würde ich. Wird sich schon ergeben, wenn/falls. Gerade noch rechtzeitig vor „wäre wahrscheinlich sowieso nicht“ habe sie die Bremse gezogen, sei einfach hingegangen und habe irgendwas absolut Saudummes gesagt, für das man sich im normalen Leben unter den Tisch und durch die Bodendielen hindurch in die Schwabinger Kanalisation hinunterschämen müßte. Was aber in diesem Fall – wie in jedem Fall – genau das Richtige war: Er sagte irgendwas noch Saudümmeres, und nach zwei Minuten war eines dieser Gespräche im Gang, aus denen die größten Popsongs aller Zeiten entstanden sind.

Aber dann seien die Probleme losgegangen: Zwar habe er sie angemessen stürmisch geküßt, zwar habe sie den belanglosen Gesprächsinhalt in der Erinnerung längst durch ein ausufernd wild erotisches Spiel von Blicken und stummen Provokationen ersetzt, indes mußte er am nächsten Tag beruflich bedingt, wie man so sagt, „früh raus“ und deshalb gehen, und nun korrespondiere sie zweimal täglich mit ihm über Facebook, um zu erfahren, wieso eine körperliche Begegnung einfach nicht zustande kommen will: Er kann nur, wenn sie nicht kann, und umgekehrt – alles mögliche Berufliche und metaberuflich Soziale steht dazwischen, und derweil ziehe der Sommer dahin und verfliege langsam, aber ebenso unaufhaltsam ihre aus der verschwimmenden Erinnerung gespeiste Lust.

Ich wollte nicht allzu belehrend wirken und beschränkte meine Ausführungen daher auf die Standardbinsenweisheit, so gehe es eben, wenn der Mensch auf den grundlegenden und ihn von allen anderen Lebewesen scheidenden evolutionären Defekt seines Hirns hereinfalle: Dann habe er keine Gegenwart mehr, sondern nur noch eine „Zukunft“, keine Liebe, sondern nur noch „Aussichten“ und „Optionen“, kein Geld, sondern nur noch Zinsen, keine Zeit, sondern nur noch Termine, keine Leidenschaft, sondern nur noch Ziele und Hoffnungen, und da es eine Zukunft nicht gibt, werde all das irgendwann, spätestens mit Einsetzen der naturbedingten Demenz, unbemerkt verschwinden und in Reue und Verzweiflung ertrinken.

All das wußte F längst selber, und deswegen nickte sie nur melancholisch, weil er es wahrscheinlich auch weiß und aber wie die meisten Menschen aus diesem Wissen nur den Entschluß zieht, „irgendwann“ oder „bald“ was zu ändern, einen Schlußstrich zu ziehen, dies und das „umzukrempeln“, einen „Neustart“ zu machen usw. Dazu, das wissen wir auch alle, kommt es nie. Weil es das unablässige Tun des Menschen ist, was einer Veränderung im Weg steht, kann man nichts verändern, indem man etwas tut, sondern nur indem man etwas nicht tut.

Also rief F ihren sogenannten Arbeitgeber an, erzählte ihm was von einer Sommergrippe, und während wir solcherart von lästigen Pflichten befreit müßig durch den Sommer radelten und den schimmernden Taumel genossen, den die Mischung aus absoluter Ziellosigkeit, Münchner Luft und Mittagsbier erzeugt, während wir mit der Isar flossen, über die Auer Dult flanierten, dem Rauschen der Bäume lauschten, unseren Blick im Himmel verdunsten ließen und die Zeit vergaßen (die übrigens sofort das Vergehen einstellt, wenn man sie vergißt), während wir lachten und Blödsinn redeten und Menschen und Tieren bei ihren sinn- und zwecklos lustigen Verrichtungen und Vergeblichkeiten zusahen, merkte ich, wie ihre Trauer sich in Nichts auflöste, so wie sich bei den anderen Menschen das beglückende Nichts in Trauer auflöst, wenn sie es mit Sinn und Zweck und Plänen zu füllen trachten.

Während nun ich den Vorsatz, nicht belehrend zu wirken, im zweiten Bier ertränkte und munter mit Binsenweisheiten um mich warf, daß es nur so staubte, schenkte mir F die beglückende Art von Blick, die man jemandem schenkt, der sich aufgrund einer Überdosis absoluter Ziellosigkeit, Münchner Luft und Mittagsbier in einen Guru zu verwandeln wähnt, und weil ich das selber wußte und merkte, entschwanden wir für einen endlosen Augenblick in jener fernen Dimension, in der sich so jemand tatsächlich in einen Guru verwandelt und das Lustigste tut, was man im Leben tun kann: das eigene Spiegelbild in den Augen eines anderen Menschen verspotten.

Aber dann klingelt das Telephon, und die Redakteure rufen an: „Sailer, wo bleibt dein verdammter Text! Wir sind eine Tageszeitung und keine Jahresschrift!“ Und weil solche Gespinste wie das, in das wir uns eingesponnen hatten, an einem winzigen Riß leicht gänzlich zerfasern, fällt F ein, daß sie noch ein Referat vorbereiten und zum Sport und nach Berlin zum Geburtstag ihrer Oma und dies und das muß.

Und während der Sommer vergeht und wir zweimal täglich über Facebook korrespondieren und Termine zu vereinbaren versuchen, ahne oder weiß ich, daß wir uns irgendwann vielleicht wiedersehen werden, sporadisch hier und da, daß unser Sommer dann aber vergangen und das beglückende Nichts in immerhin sanfter Trauer ertrunken sein wird, über die wir vielleicht sogar irgendwann mal gemeinsam lächeln können.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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