Das Erscheinen ist eine Tätigkeit, die in der sowieso elusiven, nur noch als Idee und Erinnerung in der Welt wesenden Musikbranche eine schwer zu umreißende Rolle spielt. Bei Marissa Nadler noch mehr als bei anderen: Ihre (vielen) Platten irrlichtern durch die Zeit wie Sternschnuppen mit Zellaktivator – gerade erst da und mit begeisterten „Oh! Ah!“-Rufen sowie diversen Preisen und Anpreisungsetiketten versehen, sind sie schon wieder weg, kehren plötzlich wieder, sind wieder weg und wieder da. Das gilt nicht nur „körperlich“: Dieses, ihr (ungefähr) sechstes Album (von ungefähr acht) kam 2009 auf das, was man immer noch gerne Markt nennt, obwohl sich davon praktisch nichts mehr zwischen Regal und Kasse abspielt, und zwar mit Hilfe eines New Yorker Metal-Labels. Kritiker, die davon etwas mitbekamen, waren begeistert (und zeigten damit eine gewisse Beharrlichkeit, hatten sie doch schon den ungefähren Vorgänger „Songs III: Bird On The Water“ als „Best Americana Record of the Year“ gefeiert), der Rest der Welt ging achselzuckend vorüber.
Nun erscheint „Little Hells“ noch einmal; man weiß nicht genau wie und warum, aber man sollte sich auch nicht allzu viele solche Gedanken machen, sondern lieber lauschen. Das Erscheinen nämlich ist durchaus und durchweg ein Thema dieser zarten, manchmal wie Rauchringe dahinschwebenden, dann wieder wie ein nahezu schwereloser Samtvorhang übers Gemüt wehenden Musik: Man möchte sie festhalten, darin eintauchen, sich damit füllen; aber ehe man sie greifen könnte, ist sie schon wieder weg, verflogen und verzogen, und hinterlässt einen zarten Phantomschmerz, ein kleines Vakuum in der Seele, „The Hole Is Wide“, und ohne es zu merken, drückt man auf „Repeat“, und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil Nadlers Lieder nicht als Ohrwürmer im Hirn kleben.
Es ist auch schwer zu be-greifen, was einen daran so fasziniert: Melodiepartikel, Themen, Geschichten, Stimmungen und Personen kehren verwandelt oder verkleidet wieder, getragen von dieser traumselig hauchenden, trotzdem kräftig und unbeirrt durchs Schicksalsmeer tauchenden Stimme, die hie und da etwas zu fragen scheint, so als wüsste sie selbst nicht, ob es wahr sein kann, wovon sie berichtet – manchmal fragmentarisch, dann wieder konkret, aus ungewisser Ferne beobachtend oder mittendrin miterlebend. Immer wieder kehren Motive epochaler Einsamkeit und gelassener Trauer, angesiedelt in Traumzeiten jenseits der Historie.
Musikalisch schöpft Marissa Nadler scheinbar aus vielen Quellen; die Einflüsse, die man ihr zugeschrieben hat, sind jedoch nicht zu identifizieren, so wenig wie man einem blühenden Pfirsichbaum ansieht, dass er aus feuchter Erde erwachsen ist. Mal verschwimmen monotone Akustikgitarren in einem Universum von Hall, mal sind die gezupften Saiten, die wollig getupften Tasten und Felle so nah, als trüge man sie im eigenen Kopf; nur die Stimme kommt aus großer Tiefe und Höhe zugleich, ortlos und zeitlos schwebend. Meint man etwa, im abschließenden „Mistress“ tatsächlich und handfest Elemente südstaatlicher Folklore identifizieren zu können, gerät man gleich wieder ins Schwanken – Sind das überhaupt echte Pedal-Steel-Gitarren? Sind solche Harmonien in der Countrymusik überhaupt erlaubt? Es spielt letztlich keine Rolle.
In den meisten (sowieso wie gesagt unsicheren) Diskografien von Marissa Nadler fehlen ihre aufschlussreichen (ganz ohne Label „erschienenen“) „Covers“-Platten, auf denen sie Songs von Leonard Cohen, Tom Petty, Bruce Springsteen, Neil Young, Bob Dylan, Loudon Wainwright III, Townes Van Zandt, Joni Mitchell, Daniel Johnston, Cat Stevens, Radiohead und anderen in ihre Sprache übersetzt – da möchte man den Finger heben: Aha! Aber auch das ist ein Irrtum; hört man dieser Frau lange genug zu, fragt man sich, ob nicht letztlich sie der Urgeist aller Musik ist, aus dem alles andere, spätere, frühere und weitere erstanden und erwachsen (und eben auch erschienen) ist. Wie aus feuchter Erde.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.