Belästigungen 14/2016: Vom Rand und seinen Bewohnern (eine sommerliche Elegie)

Was ist eigentlich mit dem Münchner Stadtrand geschehen? Früher konnte man den buchstäblich er-fahren, zumindest mit dem Radl, zumindest hier und da: Die Häuschen und Hütten wurden immer kleiner, ein letzter geduckter Schupfen, halb versunken zwischen gemütlich wucherndem Gebüsch, ein Bach in Bäumen; der Feldweg führte über eine kleine, katzenbuckelige Brücke, dann stand man auf einer scheinbar unendlichen Allee, links und rechts Wiesen, Felder, Wäldchen bis zum Horizont. Da war die Stadt aus.

Heute wuchern weiter hinten Klötze über die Baumwipfel, fondantbunt und normiert eckig. Da geht die Stadt weiter, meint man, und imaginiert, daß man ewig weiterfahren könnte und immer wieder solche Klotzhaufen auftauchen sähe. Auch Felder und Wiesen sind nicht mehr die alten, da stehen jetzt gigantische Baumaschinen, Blechhütten und wachsende Schutthügel zwischen tiefen, von der Sonne in den geschundenen Boden gebackenen Riesenreifenspuren.

L. wohnt dort draußen in einem der Klötze. Wobei „wohnen“ nicht ganz das richtige Wort ist: Sie fährt täglich abends nach der Arbeit dorthin zum Fernsehen, Essen und Schlafen, und morgens fährt sie wieder weg. Lebensmittel erhält sie in einem rechteckigen Discounter zwischen Parkbuchten, Bushaltestelle und einem gepflasterten Platz um etwas, das vielleicht Kunst sein soll und wahrscheinlich lieber ein Springbrunnen wäre; aber weil sich dort ohnehin niemand aufhält, ist das nicht so wichtig.

Der Klotz, in dem L. arbeitet, steht ebenfalls irgendwo zwischen ehemaligen Stadträndern herum; man müßte auf einer Landkarte nachschauen, ob er der eigentlichen Stadt näher oder ferner ist, aber auf dem Plan, den sich L. gekauft hat, als sie nach München gezogen ist, gibt es die Straße, in der der Klotz steht, noch nicht. Möglicherweise handelt es sich um einen der Feldwege, die zwischen den auf der Karte angedeuteten zerfransenden und wuchernden Stadträndern verlaufen. Das ist jedoch nicht mehr festzustellen; Menschen, die diese Feldwege noch gegangen oder gefahren sind, gibt es offenbar nicht mehr.

Wenn es L. dort draußen zu einsam und deprimierend wird, fährt sie in die Stadt hinein und nimmt an den Events teil, die Münchens selbsternannte Unterhaltungsbeauftragte inszenieren, um die frühere „Hauptstadt der Bewegung“ in Bewegung zu halten, damit ihre entmündigten Bewohner nicht auf abwegige Gedanken kommen. Wobei „teilnehmen“ nicht ganz das richtige Wort ist: L. bewegt sich auf ihren zarten, vom übermäßigen Gebrauch modischer Schuhe leicht entstellten Füßen unsicher zwischen Gestalten, die wie sie auf etwas warten, dabei Süßgetränke und Gewummer konsumieren und sich über Dinge unterhalten, die nicht stattfinden, dies aber könnten.

Wenn L. danach in ihren Klotz zurückgekehrt ist, fühlt sie sich wie nach dem Kotzen: erschöpft und euphorisiert zugleich, verängstigt und erleichtert. L. kotzt oft, weil sie das Zuckerzeug, den Schnaps und die Gemische aus Weißmehl und Billigfett mit Tomatenbrei nicht recht verträgt, vielleicht aber auch einfach so.

L. hat ein Geheimnis, das sie entdeckt hat, als sie einen ganzen leeren Sonntag damit verbrachte, aus dem quadratischen, toten Fenster ihrer Schlaf- und Fernsehstätte im zehnten Stock zu schauen: Nicht weit von ihrem Klotz sah sie zwischen dichten Bäumen etwas, was sie weder erklären noch zuordnen konnte. Sie zog ihre unmodischen Schuhe an, ging nachschauen und fand eine kleine Siedlung, einen Rest davon, ein paar Häuser nur, seit vielen Jahren verlassen, etwas heruntergekommen, aber nicht verloren. Menschen mit etwas Liebe und Geschick hätten sie in wenigen Wochen nicht nur bewohnbar, sondern zu einer Idylle machen können.

L. erkundete die Häuser, setzte sich vor einem davon auf eine alte Bank und stellte sich vor, dort zu leben, in einer Zeit, die es nie geben würde, aber vielleicht einmal gegeben hatte. Sie fand viele Dinge in den Häusern: Möbel, Öfen und Herde, Bilder, vergilbte Dokumente, aber keinen Fernseher. Manchmal nahm sie einen Schlafsack mit, den sie sich eigens dafür gekauft hatte, und übernachtete in einem der Häuser oder, wenn es warm genug war, auf der Bank davor.

Einmal überraschte sie in einem der Gärten hinter und zwischen den Häusern ein Mann, der sie fragte, was sie da verloren habe. Nichts, dachte L., und alles, und sie floh, ohne etwas zu sagen. „Hallo, Sie!“ rief der Mann, aber L. wandte sich nicht um. Danach wagte sie sich nicht mehr in die Siedlung.

„Du hättest mit ihm reden sollen“, sage ich. „Vielleicht hätte er dir das Haus geschenkt.“

„So etwas tun die Leute nicht“, sagt L., und da hat sie wohl recht, obwohl es im Grunde denkbar wäre, daß Menschen Dinge verschenken, mit denen sie nichts anfangen können und andere schon. Daß es die verfallende Siedlung noch lange gibt, ist hingegen unwahrscheinlich. Stadtplaner und Architekturfaschisten lauern auf solche Überbleibsel, weil sie weder Liebe noch Geschick, aber Visionen haben.

An einem leidlich sonnigen Frühlingstag haben wir einen Spaziergang durch die Stadt gemacht. Nicht durch die Stadt der „Events“, sondern durch die stillen, verzauberten und geheimnisvollen Nischen, Ecken und, ja: Ränder dazwischen, wo der Staub vieler ungelebter und gelebter Leben zwischen die Steine sinkt und anderswo verbotene Grashalme nährt. Als wir im Sonnenuntergang in einem zwischen verwilderten Schrebergärten verborgenen Biergarten saßen, der weitgehend stummen und ansonsten vollkommen unsinnigen Konversation der Gartler lauschten und den in uns hineingeflossenen Tag wieder herausfließen ließen, wollte L. tanzen und singen vor Freude, weil sie nun doch noch die Stadt gefunden hatte, in die sie vor drei Jahren angeblich gezogen war.

Nächsten Monat muß L. in die Nähe von Dortmund ziehen. Ihre Firma braucht sie dort, sagt sie, und: „In München braucht mich niemand.“ Ich könnte sagen, das sei nicht wahr, denke ich, aber ich möchte L. nicht belasten, und dann denke ich: Vielleicht gibt es in der Nähe von Dortmund ein zehntes Stockwerk, wo sie an einem langen, leeren Sonntag aus dem quadratischen Fenster schauen und etwas finden kann. Obwohl ich ihr diesen Tag nicht wünsche, denke ich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.