Frisch gepreßt #307: Bruce Springsteen „High Hopes“

Die Frage der Verehrlichkeit beziehungsweise Verwerflichkeit populärer Musik stellt sich kaum je irgendwo so dringlich und ambivalent wie bei dem 64jährigen Bruce Frederick Joseph Springsteen. Da hagelt es nur so die i/y-o-Wörter: Symptom, Ikone, historisch, Syndrom, Mythos … „Hero!“ brüllt der autofahrende Amerikaner dazu, steigt aufs Gas und wähnt sich im Stande sozialer Gerechtigkeit mittel Gitarrenakkord und Trommelknall (sein Nummernschild plärrt dazu den aus „Breaking Bad“ bekannten Slogan: „Live free or die!“) und ahnt nicht, daß er damit eine höchst sarkastische Beschreibung des Mannes, der ein Auto sein wollte, nachstellt, über die Tom Robinson schon 1977 nur mit Gänsehaut und Zunge in der Backe lachen konnte: „Furlined seats and lettered windscreen / Elbow on the window sill / Eight track blazing Brucie Springsteen / Bomber jacket, dressed to kill.“ „Frisch gepreßt #307: Bruce Springsteen „High Hopes““ weiterlesen

Frisch gepreßt #181: Bauhaus „Go Away White“

Es gab einmal eine Zeit, da war Dracula nicht die ausgelutschte Blutlutschgestalt, als die er durch tausende langweilige Viertelgruselfilme und Kitschromane stiefelt, angebliche Jungfrauen erbleichen und sich selbst endlich einen Holzscheit ins Brustgehäuse hämmern läßt, immer mit irgendwelchen angeblichen erotischen Symbolen und Metaphern als Hintergrundtapete. Nein, da war Dracula ein Lebensmodell für tausende Großstadt-Jungmenschen, die sich in Kellerclubs versammelten, mit weißgepuderten Gesichtern, schwarzen Vogelnestern auf der Birne und in lange Third-Hand-Mäntel gehüllt eigentümliche tanzähnliche Bewegungen durchführten und ansonsten in Denkmalpose am Tresen standen, Bier tranken und per Zehn-Minuten-nach-dem-Suizid-Gesichtsausdruck ausdrückten, was für ein Untergang alles war.

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Frisch gepreßt #295: Ellen Foley „Night Out/Spirit Of St. Louis“

Lustige Koinzidenz: Gestern nacht versuchte ich einer spät nachgewachsenen Zeitgenossin zu erklären, dass und weshalb The Clash die größte, wenn nicht die einzige (okay, es war spät) Rock-’n’-Roll-Band aller Zeiten waren (und, phänomenologisch betrachtet: sind). Keine paar Stunden später erinnert mich eine Veröffentlichungsanzeige daran, dass sie auch ihre Schwächen hatten, wie sich das gehört, was ihren Kampf gegen die ganze dumme, böse Welt vielleicht noch heroischer macht, aber egal.

Rückblende: Mit sechzehn kannte ich ein Mädchen, war rauschhaft und vermeintlich unsterblich verliebt, stellte indes nach zwei abendlichen Begegnungen (ein Tanz, ein Kuss) fest (wie man heute postet): „Es ist kompliziert.“ Nämlich stand jemand dazwischen, der wegzugehen sich weigerte, da mochte sie Sehnsuchtsblicke wie Photonentorpedos nach mir schleudern, während er ihre Hand klammerte. Die versengten mich nur und machten meine Ratlosigkeit zum Sumpf, in den ich schließlich sank, während sie an ferne Sommerferienorte entschwand oder sich entführen ließ; ich weiß es nicht. „Frisch gepreßt #295: Ellen Foley „Night Out/Spirit Of St. Louis““ weiterlesen

Frisch gepreßt #293: Bullfrog (s/t)

Manche Sachen verschwinden im Strudel der Zeiten so vollständig, daß, wenn sie plötzlich wieder auftauchen, man sich verblüfft fragt, wo sie die ganzen 35 Jahre waren. Wie diese Band, diese phantastische Band, die wir damals im Theatron … Nein, da holen wir jetzt weiter aus.

Was das für ein Sommer war, ab Mai: dreißig Grad, Geschichtsstunde über den Vietnamkrieg, der gerade ein Jahr her ist; Diskussionen über Atomkraftwerke, fremde Planeten, rätselhafte Mädchen und die Fußball-EM – ganz Giesing hallt nachts von den entsetzten Schreien über Hoeneß’ verschossenen Elfmeter; nach den Pfingstferien hitzefrei bis Ende Juli, jeden Tag. 99 Pfennig für einen Liter Eis im verlassenen Schulhof, ein Bier in der schwülen Dämmerung, leichter Schwindel beim Fußballspielen, wie schwebend; lachen bis die Sonne untergeht, fast Mitternacht, plötzlich Stille zum Flüstern, paar Pfützen um den Wasserhahn im Pfarrgarten, mit gelben Rändern vom Blütenstaub; oder ist das Wüstensand, wie die Bildzeitung mit rotem Kopf meldet? „Frisch gepreßt #293: Bullfrog (s/t)“ weiterlesen

Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City“

Der Plan war: Eindringlich, poetisch und unwiderlegbar darlegen, weshalb es, wenn der verschneite Frühling in einen verregneten, verwehten, verstürmten, vergrauten und verwolkten überschmilzt, in dem Schwester Sonne nur bei Kurzauftritten trotzig-traurig bläut, weshalb es da für pathologische Romantiker mit gebrochenem Sinn gar nicht genug Lotte-Kestner-Alben geben kann, um das Seelenblut zu stillen und den brachen Geist in weiche Tücher zu hüllen, damit er schlafen möge und träumen von anderen Welten und Zeiten. Weshalb es deswegen so schön ist, daß einen Monat nach dem letzten heute schon wieder ein neues Lotte-Kestner-Album erscheint …

Aber es geht nicht, weil ein solcher Krach die Wohnung füllt. Wo kommt der plötzlich her? „Frisch gepreßt #291: Dr. Feelgood „All Through The City““ weiterlesen

Frisch gepreßt #290: Wire „Change Becomes Us“

Es gab eine Zeit, da wagte sich die Popmusik ganz weit vor und ganz weit hinaus. Was im Großen nach mehr klingt, als es bedeutet: Freilich war auch das eine Zeit, da sich die Popmusik gar nichts traute und nirgendwohin wollte. Eine Menschheit wogte um den Planeten, verrichtete ihre Verrichtungen und hörte dazu Bruce Springsteen, Van Halen, die Bee Gees, Abba und Disco und massenweise Autoradioballaden für Herzamputierte. Rod Stewart heiratete ein Blondchen, und in den sommers brachliegenden Stadien verrichteten Altrock-Institutionen ein freudloses Rumpfwerk, von Black Sabbath (ohne Ozzy Osbourne) bis The Who (ohne Keith Moon).

Aber das war eben nicht alles; in dem großen, weiten und strahlend weißen Schatten, den der Punkrock nach seiner Implosion im Sommer 1977 hinterlassen hatte, erblühte nicht nur das entzückend infantile Kinderbeatles-Theater von The Knack, sondern da öffneten sich Türen und Tore, wo vordem Mauern  gewesen waren, und manche, ja, die wagten sich ganz weit vor und ganz weit hinaus. „Frisch gepreßt #290: Wire „Change Becomes Us““ weiterlesen