WM-Tagebuch 2006 – 03 Ein Tag bis alles und nichts

Dienstag, 8. Juni 2006:

Die Gegenwart ist ein Sinnfeld, das aus dem Kontrast zwischen Eindrücken und Erinnerungen entsteht; diese markieren das Spielfeld, auf dem jene sich Regeln fügen, die sie als Geschehnisverläufe über den unfaßbaren Augenblick hinaus erfahrbar machen und die auch für Überraschungen gelten. Am stärksten und weitesten erleben wir das „Wunder“ in der Musik, die den sozusagen ortlosen Schnittpunkt von Eindruck, Erinnerung und Erwartung zu einem „Gegenwartsraum“ zu erweitern vermag.

Je naiver der Blick, desto einfältiger zeigen sich Formen und Verläufe bis ins kleine Detail; dem erfahrungsarmen Beobachter begegnen unerwartete Wendungen als Wunder, sammeln sich zum Weltzustand, der (noch) nicht ins Bewußtsein gedrungen ist. „WM-Tagebuch 2006 – 03 Ein Tag bis alles und nichts“ weiterlesen

WM-Tagebuch 2006 – 02 Die Ananas und der Affe

Mittwoch, 7. Juni 2006:

Wieder und wieder erbricht die Weltmaschine das Lackgesicht von Michael Ballack; da sie als Gegenstück nur das Konzept Schweinsteiger zu bieten hat, wird verzweifelt das Urbild des Bären beschworen, der ungreifbar durch die ins Dunkel verschwimmende Ortsortung taucht und sie mit Schafskadavern neu absteckt.

„Die bringen ihre Schafe selber um“, sagt der Freund, „und dann verlangen sie ein Fünzigerl Eintritt zum Begaffen. Der Mensch erkauft sich die mittelbare Ansicht des Ungeheuren.“
Und ich ziehe die Faces aus dem Regal, wo sie fast zwanzig Jahre unberührt schliefen, um durch Rock ’n’ Roll eine Unbestimmtheit zu erzeugen, die unerhört wirkt. „Früher, sackerment, da gab’s halt noch echte Kerle. Die gibt’s heute nicht mehr.“ (Franz Beckenbauer, 20. Jahrhundert) „WM-Tagebuch 2006 – 02 Die Ananas und der Affe“ weiterlesen

(Ten Years after:) WM-Tagebuch 2006 – 01 Regen, schwarzweiß

Freitag, 2. Juni 2006:

Während mit einem Krawallorkan von Reklame und Kollateralhysterie der WM-Circus durchs Land zieht, noch bevor vom angeblichen Kern der Sache mehr zu sehen ist als die hirndumpfe und beinlahme Stoppelei der deutschen Mannschaft gegen Japan (die als Phosphen nach einer Fernsehhalbzeit bleibt und, wenn man sie in ein Symbol destillieren könnte, den Zustand der Abwesenheit von Spiel und der dazu führenden Disposition ideal wiedergäbe), schmeißt sich in jeden Gedankengang der pathetische Zitatwitz, es sei „kalt geworden in Deutschland“. Aber beim morgendlichen Studium der Namen von fünfundzwanzig frischgekürten Eisheiligen (der gestrige Tag gehört Simeon, dessen Heiligkeit ihren Grund darin fand, daß er sich zur Empörung der reformwilligen Trierer Bevölkerung sieben Jahre lang im Turm der Porta Nigra einschloß), gerinnt der feldgraue Himmel zur Metapher, „(Ten Years after:) WM-Tagebuch 2006 – 01 Regen, schwarzweiß“ weiterlesen

Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?

Moralapostel mag niemand gerne (und keine Angst, ich werde in den folgenden Zeilen ganz bestimmt keinen solchen geben). Denen ruft man ein gehässiges „Mäh! Mäh! Mäh!“ entgegen und schaut vergnügt zu, wie sie geteert und gefedert auf einer Eisenbahnschiene aus dem Dorf getragen werden. Mit einer Ausnahme: Wenn die Zeigefingerburschen einer Gesellschaftsschicht, oder sagen wir ruhig: Klasse entstammen, die man von Haus aus für eine schmierig schillernde Bande von Schwerverbrechern hält und für ihre maßlose Gier, Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit insgeheim bewundert („Hund’ sans scho!“), dann zieht man den Hut, wenn sie mal was annähernd Vernünftiges sagen.

So brachte es der Wurstfabrikant, Börsenspekulant und Vereinspräsident Ulrich Hoeneß zu einigem Ansehen, weil er neben einem Haufen Blödsinn immer mal wieder Sachen sagte, von denen wir alle wissen, daß sie richtig sind, die sich aber sonst keiner sagen traut, weil es sonst schlagartig aus ist mit der Medienkarriere und den Talkshowhonoraren. Deutsche Medien brauchen Durchhalteparolen, neoliberale Propaganda, Unterschichtbeschimpfung und Leistungsgefasel; etwas anderes wird weder gedruckt noch gesendet, und wenn doch, dann nur umgeben von solchem, das dann immer in der Mehrheit sein, hochamtlich tönen und die jeweilige Frau Wagenknecht niederbrüllen muß. „Belästigungen #409: Darf ich Sie mal was fragen, Herr Hoeneß?“ weiterlesen