Deutschland 1960 – jeder Dritte vergleicht es mit dem Deutschland von 1933; was vor zehn Jahren als eine Ungeheuerlichkeit hätte abgewiesen werden müssen, wird heute schon als abgegriffene Münze beifällig weitergegeben. Professoren fliegen „wie damals“ aus Amt und Würden, Militärs gelten soviel wie Politiker, Sozialdemokraten sitzen in der Klemme zwischen den Kompromissen ihres Vorstandes und eigener Oppositionshaltung, die Verfassung gilt als manipulierbar und veränderlich, der Präsident ist erneut der supra-parteiliche Propagandist reaktionärer Programme, das Vertrauen in die Judikative ist zutiefst geschwächt, und noch ist kein Ende abzusehen von jener Kette aus zweitem Fernsehprogramm, einer Bundeswehrdenkschrift, einem Lücke-Plan, einer Speidel-Rede, einer Wehrpflichtnovelle und Gesetzesvorlagen in ministeriellen Schubfächern contra Presse, Parlament und Parteien.
Ulrike Meinhof: Notstand? Notstand! (1960)
Man wird schon zugeben müssen, daß eine solche Geschichte [der menschlichen Narrheit] nicht übel am Platze wäre zu einer Zeit, welche so wie die unsere von Schwindel, Selbstüberhebung und Dünkeltobsucht strotzt. Sie darf ja geradezu einen Ehrenplatz ansprechen im Weltnarrheitsbuch, diese Zeit, wo das tolle Dogma vom 18. Juli 1870 möglich war, kraft dessen ein alter Mann, welcher schon sechs Jahre zuvor größenwahnsinnig genug gewesen, mit seinem im „Al Gesu“ präparierten Syllabusschwamm die Resultate einer tausendjährigen Kulturarbeit wegwischen und mittels der aus besagtem Schwamm abtröpfelnden „Kanones“ die moderne Gesellschaft ins Mittelalter zurückfluchen zu wollen, alle die hierarchischen Hochmutsdelirien der mittelalterlichen Gregores und Innocenze noch überbieten durfte. Und sotaner Riesenschwindel spektakelt keineswegs allein auf der Bühne der Gegenwart, bewahre! Er hat ebenbürtige Mitspieler. Da ist z. B. der gelehrte Größenwahn, welcher auf dem Treibsand irgend einer gerade modischen, mehr oder weniger windigen Hypothese mit „affenartiger Geschwindigkeit“ eine neue „Weltanschauung“ nach der andern, jedesmal natürlich die „absolut vernünftige, wahrhaft wissenschaftliche und einzig zeitgemäße“ Weltanschauung aufschwindelt, bis der nächste, aus einer andern Studierstube kommende Hypothesenwind das anspruchsvolle Kartenhaus wieder umbläst.
Johannes Scherr: Größenwahn (1876)
Die Bauern um das Kloster waren noch alte Welt – mit ihren harten, knochigen kleinen Köpfen und tief gefurchten Gesichtern und gänzlich unausgefülltem Geist: sie riefen ihre Worte so hinaus, wie Kühe rufen, und lebten ihr Leben wie die Eidechsen im Felsgestein, gingen stumpf der Arbeit nach, die sie gerade an der Hand hatten, und dem gegenwärtigen Augenblick, waren abgeschnitten von aller Vergangenheit und Zukunft und hatten kein Ziel und kein Gefühl als einzig den uralten Lebenswillen, der eine Schildkröte im Frühling wieder zum Leben erwachen und ein Heupferdchen sogar im November in mondhellen Nächten fiedeln läßt.
D. H. Lawrence: Der Fremdenlegionär (1924)
Zsuzsa war eine ziemlich plumpe Hausfrau um die Vierzig. Ich sah sie manchmal auf Partys, wo sie anderen Gästen auf die Nerven ging, indem sie sie mit erleichterten Ausrufen begrüßte wie: „Ich bin so froh, Sie zu sehen! Ich habe Gerüchte gehört, Sie seien verhaftet worden!“ Sie erinnerte uns auch an die Möglichkeit, daß die Chinesen die Macht in Ungarn übernähmen, und warnte uns vor unserer bevorstehenden Auslöschung durch amerikanische Atombomben. „Ich frage Sie“, sagte sie einmal laut, als die Party gerade in Schwung kam und ihr Mann einer anderen Frau den Hintern tätschelte, „ich frage Sie, was hat der Kampf gegen den Kommunismus mit der Einäscherung dieses Landes zu tun? Warum wollen die Amerikaner uns bombardieren? Haben wir unter den Russen nicht schon genug gelitten?“
Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben (1965)
Strohberg war überzeugt, daß alle Künstler, alle musischen Menschen – als den Prinz sich ja einmal in einem Brief, muß sogar der letzte obligatorische Weihnachtsbrief gewesen sein, bezeichnet hatte – im Grunde genommen Hurenböcke waren. Nichtstuer, die blind ihren Lastern ergeben waren.
Peter Jokostra: Herzinfarkt (1961)
Der Staatsanwalt errötet leicht: Ich weiß selbst nicht, was da gestern in mich gefahren war. Ich sprach wie in Trance, als wäre ich nicht Beamter, sondern Rächer – geradezu das Predigen und Donnern kam mich an.
Es war wie in der Kirche, meint der Vorsitzende bedachtsam. Wissen Sie, daß die Menschen im Zuschauerraum kaum atmeten? Ein sonderbares Volk. Auch ich spürte es: daß wir etwas Schwereres richten als das Verbrechen, daß wir die Sünde richten. – Gottlob, heute werden wir es dort leer haben; keine Sensation, ganz glatt wird es gehen.
Karel Capek: Hordubal (1956)
Lauter Schleimscheißer, das könnte euch passen.
Karlheinz Deschner: Talente Dichter Dilettanten (1964)
Eine der Attraktionen unseres Hauses, früher, war eine unvorstellbare Sammlung von Comicheften, darunter der gesamte Lucky Luke.
Der Wilde Westen.
Eine Tänzerin wird in einer mächtigen Torte versteckt. Auf ein bestimmtes Zeichen hin soll sie aus der Versenkung auftauchen, doch sie wird total vergessen. Sie klopft, sie schreit – vergeblich. Als sie endlich aus der Torte hervorbricht, die Arme graziös über dem Kopf, tataaa!, ist sie völlig fehl am Platz – auf dem Fest ist inzwischen eine gewaltige Schießerei im Gange.
Das ist es, was meiner Meinung nach bei einer Schwangerschaft geschieht.
Koos van Zomeren: Das Mädchen im Moor (1996)
Das Grauen kommt aus dem Unerklärlichen. Furcht erregt das mit dem Verstand nicht Erfaßbare. Der Mensch ist seiner Wirklichkeit ausgeliefert, so muß jede tatsächliche oder vorgespiegelte Veränderung der Wirklichkeit in ihm ein Gefühl endloser Verlassenheit hervorrufen. Da sieht er sich, meist ohne Übergang, in eine Umgebung versetzt, die in wenigstens einem Punkt mit seiner Erfahrung nicht mehr übereinstimmt. Und gerade der Umstand, daß alle Gegenstände bis auf einen einzigen die vertraute Gestalt vorweisen, schafft den grauenerregenden Kontrast.
Wolfgang Altendorf: Vom Koch, der sich selbst zubereitete (1973)
Die Europäische Union ist zweitens ein politisches Gebilde, das weiterhin im Werden begriffen ist und noch lange nicht seine endgültige Form gefunden hat. Wir befinden uns mitten in einem Prozeß der Regimewerdung.
Frank R. Pfetsch: Die Europäische Union (2001)
Den veritables Tod in den Händen zu halten, und dann die Waffe mit dem Tod zu laden, und dann schon mal langsam den Zeigefinger zu krümmen und übungshalber abzufeuern; ich meine: Muß man nicht wenigstens einen Moment darüber nachdenken, daß junge Männer, von der Realpolitik so erzogen, so etwas echt geil finden? Und darüber, wer, zur Hölle, der Staat ist, der diese Geilheit nicht nur möglich macht, sondern zwingend verordnet? Und darüber, wer wir sind, daß wir uns jeden Tag wieder mit dieser Perversion arrangieren?
Rolf Winter: Wer, zur Hölle, ist der Staat? (1992)
More than once I have been accused of inconsistency (though I have never pretended to complete consistency) because while I was prepared to favour some form of socialism, I was at the same time strongly individualistic. But these do not cancel out: it seems to me that one demands the other.
J. B. Priestley: Outcries and Asides (1974)
In den Gärten an der Czeczota-Straße streckten blätterlose Bäume die Stümpfe ihrer Zweige gegen den Himmel. In halbzerstörten Villen gähnten Riesenlöcher von den Artillerieeinschüssen. Der Boden war dick mit Schutt bedeckt. Die Stille klang in den Ohren und schien hier widernatürlich. Der Nebel verzog sich langsam.
Jerzy Stefan Stawinsky: Der Kanal (o. J., ca. 1956)
Es blieb ihm wirklich nichts anderes übrig, als die Zeit totzuschlagen und die Bilder einer Welt, die die Geschichte wegwischen würde, aus seinem Inneren hinauszukehren.
Raymond Queneau: Sonntag des Lebens (1952/68)
Es gibt Prediger des Todes: und die Erde ist voll von solchen, denen Abkehr gepredigt werden muß vom Leben.
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1883)
Er steht und lauscht. Es ist still, eine abgrundtiefe Stille. Keine Schüsse, kein Schrei, auch die Tiere sind verstummt, als hielte die Welt den Atem an.
Uwe Timm: Der Schlangenbaum (1986)
Ich sprach einmal mit Karl Valentin darüber, ob es richtig sei, wieder experimentelle Stummfilme zu machen. „Filme, wo man nix hört?“ fragte er. Und setzte hinzu: „Net schlecht. Und dann müßt’ man Filme machen, wo man auch nix sieht.“ Kurzum: es gibt Grenzen des Experimentes.
Gunter Groll: Lichter und Schatten (1956)
Der Johannes Scherr bringt ein willkommenes Durcheinander in mein Leseprogramm, Ausflüge in die Vergangenheit stärken die Gegenwart zu ertragen, herzlichsten Dank dafür, kann man bei den Schweizern kostenfrei als PDF runterladen, er hat ja nix mehr davon, kauft man das Buch. Nie gehört von ihm bisher, da ging bei ihm der Seeliger wohl auch in die Schule, hat mich sehr an ihn erinnert.
Das sind zwei sehr gute Hinweise, danke. Ich habe Scherr vor dreißig Jahren zufällig bei einem Antiquar auf der Auer Dult entdeckt, bis zum Dreiviertelmeter eifrig gesammelt und finde vieles von ihm enorm empörend, aber sein Stil und seine eigene universelle Empörung machen das wett. Ähnlich wie bei Mencken übrigens, vielleicht kannte ihn der auch …