Alle paar Jahre fällt „Politikern“ auf, daß das weniger begüterte Wahlvieh ihre Organisationen nicht mehr so recht wählen mag, weil das im besten Falle nichts, im weniger guten Fall Armut, Züchtigung, Krieg und eine weitere Dauerbeschallung mit dummem Geschwätz bewirkt. Nach dem vor ein paar Wochen absolvierten Kreuzritual kamen die Protagonisten der vorgesehenen neuen Führung angesichts anschwellenden Grummelns umgehend mit einem besonders alten Hut daher: der „steuerlichen Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen“. Dieser Kaugummi aus dem Süßigkeitenregal pseudopolitischer Dummphrasen ist eine Art Dauerbrenner mit Intervallautomatik: Alle paar Jahre zieht man ihn hervor und hofft, damit zu „überzeugen“.
Ich habe mich unter anderem 2003 in zwei Folgen der „Belästigungen“ damit befaßt, was unter anderem eine absurde Diskussion mit der damaligen schleswig-holsteinischen Landesregierung nach sich zog (die ich hier lieber nicht dokumentieren möchte, weil die zuständige Ministerpräsidentin inzwischen verstorben ist).
Sinkende Spitzen und Stör-Gespenster (Belästigungen 18/2003)
Weil der Mensch zu logischem und vernünftigem Denken nun mal nicht in der Lage ist, braucht er Axiome. Das sind Grundsätze, die nicht in Frage gestellt werden dürfen; früher zum Beispiel: Nach dem Tod kommt das ewige Leben, und Gott ist der Schöpfer. Mag sein, daß den dazugehörigen Schöpflöffel nie jemand gesehen hat, aber damit alles mit rechten Dingen und einigermaßen ordentlich zu- und vonstattengeht, hat man sich eben so geeinigt.
Ein heutiges Axiom lautet: Die Steuern müssen runter! Das heißt nicht, daß demnächst Steuereintreiber durch die Straßen marschieren und erwarten, daß das Sozialpack aus den oberen Stockwerken der Betonsilos heruntertrottet und den Zehnten übergibt, auf daß trefflich Autobahnen, Kampfflugzeuge, Opernhäuser und Industriesubventionen hergehen. Sondern, wie jeder weiß: Senkung. Klingt ja auch vernünftig: Wenn keiner Geld hat, kann keiner Plastikklimbim kaufen, und dann ist das Wachstum futsch. Also wird der „Eingangssteuersatz“ gesenkt, damit der „kleine Mann“ (nicht der auf der Straße, aber immerhin der im Betonsilo) mehr „in der Tasche“ hat. Weil aber, wie man immer wieder hört, der „Eingangssteuersatz“ bloß Niedriglohnsklaven, Zwangsarbeiter und ungelernte Überstunden-Ossis betrifft, soll andererseits auch der „Spitzensteuersatz“ gesenkt werden. Könnte der Mensch einen kurzen Moment doch mal logisch und vernünftig denken, würde er feststellen: Hoppla! Die leistungsbereiten Millionenkassierer sparen ja am „Eingangssteuersatz“ genauso viel wie ich! und nun sparen sie auch noch beim Spitzensteuersatz! Die sparen also viel mehr! und ausgeben können sie es eh nicht, weil kein Mensch vier Ferraris fahren und drei Villen bewohnen kann. Das ist ungerecht!
Kein so fernliegender Schluß, die Gefahr ist mithin ziemlich groß, daß irgendwann jemand draufkommt und sauer wird. Weil das nicht geschehen darf (wg. „sozialem Frieden“), schicken die „Spitzensteuersatz“-Leute ihre Prediger in die Redaktionen und Fernsehstudios. Bei der Süddeutschen Zeitung etwa erfüllt diese Aufgabe ein illustres Team von Muezzins unter der Leitung von Nikolaus Piper, dessen Macht mit dem Anteil von „Spitzensteuersatz“-Leuten („Entscheidungsträgern“) an der SZ-Leserschaft so gewachsen ist, daß er seine wirre Ideologie inzwischen bis ins Feuilleton hineintröten darf. Weil immer mal wieder jemand sagt, daß durch die Politik der letzten (und der nächsten) Jahrzehnte die Reichen reicher und die Armen ärmer (und mehr) werden, hat die Piper-Fraktion in der SZ unlängst eine Serie mit dem schönen Titel „Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ gestartet, deren Zweck darin besteht, weltanschauliche Einpeitschung zu leisten und klarzustellen, was Piper bei jeder Gelegenheit in die Welt paukt: daß es eine Gerechtigkeit gar nicht geben kann, weil es – Axiom: – einen Wettbewerb geben muß, und außerdem sowieso überhaupt, und wenn schon, dann so: „Gerechtigkeit erfordert gleiches Recht für alle zur Störung des Bestehenden oder Gewohnten“, stellte in Folge acht der Propagandamaßnahme der „Chefvolkswirt“ einer „Deka-Bank“ namens Michael Hüther fest. Darum müsse jede Form von sozialer und sonstiger Sicherheit unbedingt vermieden und alle Arten von Unterstützung abgeschafft werden. Nur dann geht es gerecht zu: Das Recht, Wucherzinsen zu verlangen, Existenzen zu vernichten, Arbeits- und Mietverträge zu kündigen, Regierungen zu kaufen, Städte zu bauen und die Landschaft zu zerstören, hat schließlich nicht nur die „Deka-Bank“, sondern auch jeder Arbeits- und/oder Mittellose, körperlich oder geistig Behinderte, Asylbewerber, chronisch Kranke, Zwangsarbeiter, jede alleinerziehende Mutter von fünf Kindern, die Kinder selber usf. – Hüther zieht das Fazit: „Gerechtigkeit kann sich nur auf das gleiche Recht zur Störung beziehen, kaum aber auf die Verteilung der Ergebnisse.“ Denn die steht vorher schon fest, und gestört wird dabei höchstens mit Trillerpfeifen und Gewerkschaftsfähnchen, was nur noch der BILD-Zeitung und Guido Westerwelle Sorgen macht. Jeder Versuch, die Arbeitenden am Ergebnis ihrer Arbeit zu beteiligen, heißt deshalb auch nicht „Verteilung“, sondern „Umverteilung“ – schließlich müßte man denen, die im Geld baden, erst etwas wegnehmen, um es an die anderen zu verteilen.
Leider denken die Missionare des Wirtschaftsfaschismus nicht weit genug: Es gibt nämlich nicht nur keine Gerechtigkeit, sondern auch keinen Gewinn und letztlich kein Vermögen; zumindest ist bis heute noch kein Fall bekanntgeworden, in dem es einem Multimillionär gelungen wäre, den Inhalt seiner Geldsilos nach dem Dahinscheiden auf irgendeine Weise mit ins Jenseits hinüberzuschmuggeln. Da laut der Piper-Bande der allgemeine Wohlstand jedoch vom Anschwellen der Vermögen abhängt, gibt es auch keinen Wohlstand. Arbeit gibt es schon lange immer weniger, Familien wg. „Flexibilisierung“ ebenfalls, und da kürzlich der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller klarstellte: „Privat geht vor Staat, Leistungsgerechtigkeit vor Verteilungsgerechtigkeit und Eigenverantwortung vor Solidarität“, gibt es endlich nicht mal mehr eine Gesellschaft, die man aussaugen könnte.
Und nun, Herr Piper? Hallo? Ach so: daß es keine Gespenster gibt, wissen wir ja schon lange.
Hilfe! Spitzendummplappersatz schon wieder erhöht! (Belästigungen 22/2003)
Der Unterschied zwischen „Meinung“ und „Müll“: ungefähr acht Buchstaben; eine Menge, wenn man bedenkt, daß sich die Christen jahrhundertelang wegen eines einzigen Buchstaben Köpfe, Häuser und Weltreiche ein- und zusammengeschlagen haben. Meistens ist das Wort „Meinung“ aber sowieso eine Fehlbesetzung. Zum Beispiel bei politischen Umfragen: „Meinen Sie, daß die Stimmung günstig für die CSU ist? daß die SPD die Wahl gewinnt?“ werden wir da gefragt – ein anständiger Mensch hat zu so was keine Meinung, weil schon die Frage Müll ist. Alles, was herauskommt, ist öffentliches Geplapper, also: die Pest.
Kaum etwas ist so resistent gegen Logik, Vernunft und Einsicht wie öffentliches Geplapper. Das funktioniert wie „Stille Post“ und ist äußerst günstig bei der Durchsetzung gewisser Absichten. Wenn ein „Leistungsträger“ der „deutschen Wirtschaft“ eines Morgens aufwacht und feststellt, er hätte eigentlich gerne noch viel mehr Geld, ruft er seinen „Entscheidungsträger“ (in einem publikumswirksamen Parlament) an und sagt nur ein Wort: „Steuern senken!“ Der wiederum schickt „Meinungsführer“ los und läßt argumentative Leimruten auslegen: Wieso tun wir nicht mal den Eingangssteuersatz senken? Dann haben die kleinen Leute mehr Geld zum Konsumieren, und dann brummt der Laden! Ist doch dufte!
Wenn dann das große Meinungsbilden losgeht, sollte man so lange, bis das entsprechende Gesetz beschlossen ist und irgendein Busunglück, Deichbruch oder Promi-Skandal für neue Schlagzeilen sorgt, Kneipen, Läden und öffentliche Verkehrsmittel meiden, weil einem sonst das Hirn wegfliegt und man tausende Kalorien mit den sinnlosesten Diskussionen der Welt verschwendet. Oder grundsätzlich total den Mund halten, was aber nur geht, wenn man taubstumm, randvoll mit Rohypnol oder tot ist.
Um was es geht, ist egal: Trambahn durch den Englischen Garten („Da werden dauernd Kinder totgefahren!“), Arbeitslosigkeit („Die sind alle bloß faul, sonst bräuchten wir keine Tschetschenen zum Spargelstechen!“), das Wetter („Klima geht kaputt, weil wir so viel atmen!“), BSE („In Bayern gibt es so was gar nicht, sonst wäre es längst verboten!“), „Pisa“ („Drum sind die alle arbeitslos, weil sie nichts gelernt haben!“), Radfahrer („Nichts als Rowdies, die unsere Autos verkratzen, steht ja auch in der AZ!“) usf. bis zur Vergasung („Nur Quasselbuden, diese Parlamente! Habe ich schon vor siebzig Jahren gewußt!“).
Bleiben wir einen Moment beim Eingangssteuersatz. Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß eine Senkung des Eingangssteuersatzes allen Steuerzahlern gleichermaßen zugute kommt (natürlich nur theoretisch, weil irgend jemand den Humbug ja bezahlen muß; aber das ist ein anderes Thema). Senkt man auch noch den Spitzensteuersatz, so ist das ein Extrageschenk für Großverdiener, von dem sonst niemand was hat. Aus irgendeinem rätselhaften Grund wird in Deutschland mit dem Eingangssteuersatz immer auch der Spitzensteuersatz gesenkt, aber sei’s drum, so ist das eben. Punkt.
Nun möchte also wieder mal eine Regierung den Eingangssteuersatz senken und den Spitzensteuersatz auch gleich und stellt aber fest, daß „wir uns“ das gar nicht leisten können. Also schlägt ein „Gremium“ vor, erst mal nur den Eingangssteuersatz zu senken und das Extrageschenk für die Reichen ein bißchen zu verschieben. Da die beiden Sachen sowieso nichts miteinander zu tun haben, ist das keine dumme Idee.
Aber schon am nächsten Abend erfährt jeder, der sich so was anschaut, von Sabine Christiansen: Die Verschiebung sei ein Opfer der „Leistungsträger“, die auf „ihre“ Steuersenkung noch ein bißchen warten, während die faulen Hungerleider sofort mit Geld zugeschissen werden! Man sammelt den geplatzten Kragen wieder auf, fragt nach, woher solcher Stuß kommt, und erfährt: Das hat Frau Christiansen (die was anderes auch nicht kann) aus dem „Spiegel“ nachgeplappert, der behauptet, daß „die Einkommenssteuer im kommenden Jahr nur für kleine und mittlere Einkommen sinken soll, der Spitzensteuersatz hingegen bis 2005 unverändert bleibt“. Was eine ziemlich fiese Lüge ist und deshalb gut in den Volksmund paßt. Am nächsten Morgen ist die Hölle los: „Spitzenverdiener sollen erst 2005 profitieren!“ plärrt die Tagesschau, der Börsenzahlenvorlesesender Bayern 5 schnarrt hinterher, und von der Kölnischen Rundschau über den „Stern“ bis zur Süddeutschen plappert jedes Stück Zeitungspapier den Quatsch nach. Das Handelsblatt gar verrät, dadurch würden „acht von 16 Mrd.“ gespart, was heißt: Ursprünglich war geplant, daß sich alle miteinander acht Milliarden Euros Ersparnis teilen und die Reichen noch mal acht Milliarden extra kriegen.
Und ich? steige nach dem zweihundertsten vergeblichen Leserbrief erschöpft in die Trambahn und höre sofort eine Stimme quäken: „Das finde ich ganz gerecht, daß die Reichen erst mal nichts kriegen von der Steuerreform!“ Und habe keine Kraft mehr zum korrigierenden Klugscheißen („Liebe Frau, die Reichen kriegen genauso viel wie sie auch …“) und möchte am liebsten taubstumm, randvoll mit Rohypnol oder überhaupt tot sein, zumindest so lange, bis endlich Dieter Bohlen oder das Sturmtief Klementine oder sonst wer für neuen Plapperstoff sorgt.