(periphere Notate): Dunkel (Fragment)

Der Wunsch, es möge alles „wieder so sein, wie es war“, war in den schwarzen Jahren seit März 2020 nie so stark, so überwältigend und zugleich diffus wie heute, an diesem eiskalten, sonnendurchfluteten Tag, an dem mein ältester Freund diese angebliche Welt verlassen hat. Mir wollte es in den letzten drei Jahren immer wieder erscheinen, als wäre er eine Art Blitzableiter, in den alles einschlägt, was an Gemeinheit, Bösartigkeit und kriminellem Wahn sich in den Führern dieser angeblichen Welt kristallisierte und aus ihnen herausfuhr wie ein Tat gewordener Fluch. Den Gedanken, ihn nicht mehr zu sehen, kann ich nicht akzeptieren, noch nicht. Ich spreche ins Dunkel hinein und meine, daß er mich hört.

Äußerlich betrachtet schien er das ideale Opfer zu sein: Man mochte ihn für einen Strohhalm halten, der in einer Kiesgrube wächst; seine Ansprüche waren vielleicht noch bescheidener als meine, seine Demut und Geduld manchmal schwer zu fassen. Am Fluß in der Sonne zu liegen war sein Leben, und ich erwarte, daß man das dem Fluß und seinen Ufern anmerkt, wenn die Verbliebenen, auch ich, dort wieder liegen werden. Niemand, den ich kannte und kenne, hat so gelitten, und niemand hat es sich so wenig anmerken lassen. In seinem Leib war kaum noch ein Organ, das sich ihm nicht widersetzt hätte. Sein Lächeln war manchmal grimmig, dann mußten wir lachen, aber nie bitter. Es geht weiter, sagt man gerne. Es ging nie weiter; es war, wie es war, wie es immer war und immer bleiben wird.

Ich sehe ihn vor mir, wie er sich durch den reißenden Fluß kämpfte, langsam näherkam, unendlich langsam, wie in Zeitlupe; sein Lachen war unvergänglich, es sammelte Luft und Sonne, und daß er sich da hindurchkämpfte, hatte keinen Zweck. Es ging nur darum, meine Hand zu drücken, zu zeigen, daß sich in dem scheinbar muskellosen Körper über die Jahre eine Kraft gesammelt hatte, die man nicht sah. Es war ein Ritual, und Rituale werden unser Leben. Wir sprachen ein paar Sätze, es waren oft die gleichen, die alten Geschichten, über die wir uns immer aufs neue erfreuen konnten. Seine Begeisterung für Dinge, die niemand kannte und niemand verstand, war einzigartig; er war ein wandelndes Lexikon der Kleinigkeiten, für die sich niemand interessiert, außer uns.

Ich erinnere mich an frühe Nachmittage, Anfang der achtziger Jahre. Da saßen wir auf einer Art Balkon ohne Brüstung und Geländer am ungemütlichsten Platz der Welt, wenige Meter vom Stachus entfernt, gegenüber einem Hotel, das seinen Namen trug. Wir redeten kaum, weil es viel zu laut war, aber die Sonne fand uns, und wir saßen einfach da und waren zufrieden, bis irgendwer ans Fenster trat und fragte, ob wir verrückt geworden seien.

Nein, wir waren Kinder, die nie in diese sogenannte Welt hineinwachsen wollten und konnten und nie hin eingewachsen sind. Sind. Ist, bin, whatever.

Er ist der einzige Mensch, den ich kannte, der die Landung eines UFOs beobachtet hat, auf einer Wiese in Berg am Laim. Daß mir das einfällt, liegt nur daran, daß mir gleichzeitig einfällt, daß er unter allen Menschen, die ich kannte, der einzige war, der nie gelogen, geschwindelt, etwas verdreht oder falsch erzählt hat, egal aus welchem Grund Menschen das tun, weil er das nicht konnte. Es dauerte manchmal Minuten, bis er vom einleitenden „Ah, ja!“ bis zu der Geschichte kam, die er erzählen wollte, aber diese Zeit verbrachte er nicht damit, sich eine möglichst angemessene Version seiner Geschichte zu überlegen. Was er sagte, kam immer unmittelbar aus dem Hirn, aus dem Herz, aus der Erinnerung und der Anschauung, und es war immer wahr, obwohl wir manchmal den größten Blödsinn redeten.

Das galt auch für seine Kunst: Er war Musiker, ohne „Musiker“ zu sein, Sänger, ohne „Sänger“ zu sein, Schriftsteller, ohne „Schriftsteller“ zu sein. Von allen echten und sogenannten Künstlern, die ich kenne und kannte, war er der einzige, der wirklich – nicht im modernen Sinn, also ohne Anführungszeichen – authentisch war. Was man von ihm las, hörte, sah, war er, keine Kopie, keine Imitation, kein nachgestelltes Mimen. Deshalb konnte er auch nicht lernen, wie man etwas „richtig“ macht oder tut: Er konnte es nur machen und tun, ohne zu begreifen, daß andere etwas spielten oder sich antrainiert hatten. Auch deshalb war sein Zugang zu den Dingen, die ihn begeisterten, unmittelbar: Er war diese Dinge selbst, im Moment, da sie ihn betrafen.

Der Gedanke, daß es keinen wie ihn gibt, ist selbstverständlich, ohne daß ich ihn je bewußt gedacht hätte. Daß es keinen wie ihn mehr gibt, ist der traurigste Gedanke, den ich jetzt denken kann. Seine manchmal eklatante Unbeholfenheit übrigens war eine logische, unvermeidbare, zwangsläufige Folge seiner Wirklichkeit (um nicht noch einmal Authentizität sagen zu müssen): Er konnte eben nicht einen anderen spielen, und wenn ihn manche manchmal für einen anderen hielten oder mit anderen verglichen, lag das nur daran, daß sie ihn nicht erkennen konnten, weil das Zusammenspiel von unfaßbarer Größe und ebenso unfaßbarer Demut und Bescheidenheit in dieser Welt keinen Platz hat.

Dieser Welt aber hat er sich ausgeliefert, anstatt sich zu verstecken. Er trug nie eine Maske (im traditionellen Sinn), spielte keine Rolle. Er war dann auch ausgeliefert, nahm hin und hörte nicht auf, guter Dinge zu sein, mochten die Dinge noch so schwarz werden. Über niemandem, den ich je kannte, hing so lange und ausdauernd die Wolke des Todes, und niemand nahm diese Drohung so hin wie er: stoisch, fröhlich, geduldig und mit etwas, was ich nicht „Mut“ nennen möchte, weil das Wort so leer klingt, jetzt.


5 Antworten auf „(periphere Notate): Dunkel (Fragment)“

  1. Ein bewegender Text.
    Ja, es gibt diese Menschen…Sie sind wie die Krokusse im Februar (gestern die ersten gesehen).
    Er wird es hören, was Sie schreiben.

  2. Danke für diesen wunderschönen Nachruf – oder besser, wie von meinem Namensvetter aus der fernen Taiga formuliert, dem Nachflüstern. Ich wünschte, ich hätte derzeit jemanden, dem ich als letzten Gruß solch schöne Worte nachflüstern könnte …

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