Reisen im Regal (15)

Wir gingen weiter. Die zwei Haupttheorien über die Weltentstehung, Evolution und Schöpfung, wurden von Gruppen ihrer Anhänger verfochten, die Anstecker, Luftballons, Autoaufkleber und Splitter des Wahren Kreuzes verteilten. An den Wänden Fotos von Strumpfmasken. Dem sichtbaren Universum ging es blendend, fanden wir, bei soviel Bewegung, fließendem Wandel – ungeschmälerte Lebenskraft.
Donald Barthelme: Die pädagogische Erfahrung (1973)

Die Konfrontation im Gerichtssaal war die einzige Erfahrung, die ich bis dahin mit der working class gemacht hatte.
Karl Heinz Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie (2017)

Einem Russen, der in seiner Equipage durch die Straßen fuhr, wurden von einigen Erbfeinden die Pferde ausgespannt und an einen Roßschlächter verkauft. Abends war Tokio glänzend illuminiert, und Tausende von Glühstrümpfen verscheuchten die Dunkelheit, so daß die Nachtwächter jubelnd ihre Posten verließen. Bis zum frühen Helios setzte sich der Siegesrausch in den Wirtshäusern fort, wo sich der Haß gegen Rußland dadurch Luft machte, daß nicht eine einzige Portion Kaviar oder Sterlet bezahlt wurde, wenn sie bestellt und verzehrt war.
Julius Stettenheim: Wippchens charmante Scharmützel (1904)

Die Truppenbewegung in Deutschland: sie haben anderes zu tun. Tausende von Männern warten, andere marschieren den Russen entgegen. Berlin brennt lichterloh.
Marguerite Duras: Hundert-Seiten-Heft (1945)

Everyone thinks they’re special – my grandma for her Marlboro commercials, my parents for disco and the moon. You can be anything, they tell us. No one else is quite like you. But I searched my name on Facebook and got eighty tiny pictures staring back.
Marina Keegan: Song for the Special (2011)

Als alles erkaltet war, ein oder zwei Tage später, watete die Oma bis zu den Knöcheln in der knisternden Brandstätte und stocherte mit einem Stock Kohle heraus. Nichts hatte überlebt, sie hatte ja kein Gold oder Silber. Selbst die Eisentöpfe hatten die spröde Konsistenz von Mineralien angenommen. Und auch sie selbst sah aus, als hätte das Feuer sie erwischt – schwarz, gebrechlich, zerzaust. Sie stocherte mit dem Stock herum und murmelte: „Der Herrgott ist ein Mannsbild, ja ja, der Herrgott ist ein Mannsbild.“
Andrzej Stasiuk: Galizische Geschichten (2002)

Und wie mit dem Krieg – in dieser Form ist er der Gipfelpunkt krankhafter Selbstzerfleischung, der Gewalttätigkeit gegen sich selbst und gegen andere (weshalb ja auch in den neueren Kriegen der auf seinem Grunde wohnende Bürgerkrieg immer deutlicher hervorkommt), – wie mit dem Kriege so ist es auch auf allen anderen Gebieten.
Etwa in der Medizin, deren Entartung gerade in dem Nürnberger Ärzteprozeß so schauerlich zutage trat. Was demnach angesehenste Ärzte, Kapazitäten von Weltruf getan haben, läßt sich den unmenschlichsten Taten in den Konzentrationslagern durchaus an die Seite stellen.
Daß wir aber an eine Entartung der Medizin selbst so schwer glauben können, ja daß es uns weitgehend unmöglich ist, dies in unserer alltäglichen ärztlichen Tätigkeit zu entdecken, das liegt eben daran, daß hier keine einfache Schuld vorliegt, sondern eine Erkrankung.
Wilhelm Kütemeyer: Die Krankheit Europas. Beiträge zu einer Morphologie (1951)

Ein Band Musset lag zufällig auf der Kommode. Er blätterte ein paar Seiten um und fing dann von der Liebe, seinen Verzweiflungsanfällen, seiner leidenschaftlichen Sehnsucht zu reden an.
All dies war, nach Madame Arnoux‘ Ansicht, sündhaft oder bloße Einbildung.
Der junge Mann war zutiefst verstimmt, weil sie diese Gefühle in Abrede stellte, und um ihre Behauptung zu widerlegen, führte er zum Beweis die Selbstmorde an, von denen man in der Zeitung lese, schwärmte von den großen Gestalten der Literatur, von Phädra, Dido, Romeo, Des Grieux. Schließlich verrannte er sich ganz und gar und wußte nicht mehr aus noch ein.
Gustave Flaubert: Lehrjahre des Herzens (1869)

Da ich befürchten mußte, ich würde schließlich doch zurückbleiben und von den nachdrängenden Kosaken gefangen werden, verschluckte ich, um ihn vor fremdem Zugriff zu bewahren, meinen Trauring, welcher nach Lage der Dinge, das heißt, bei der mangelhaften Kost und der anhaltenden Obstipation, sich noch bei mir befinden muß.
Otto Heinrich Kühner: Das Unveränderliche (1958)

Jener Todesgedanke, vor dem ich mich fast gefürchtet hatte, weil es etwas krankhaftes war, eine Überreizung meines sonst so glücklichen normalen Nervensystems, schien vergessen. Aber ganz unerwartet kam er wieder, und dieses Mal traf er mich machtloser als je.
Heinz Tovote: Schlafen – Sterben (Ich. Nervöse Novellen, 1892)

In gewissem Sinne gleicht der nächste Krieg dem Vorschuß. Senden Sie mir, bitte! umgehend 50 Mark, und Sie werden sehen, daß es nicht der letzte ist. Das ist eben im menschlichen Charakter begründet.
Julius Stettenheim: Wippchens sämmtliche Berichte, elfter Band (1897)

Das größte Unglück in der Geschichte der Arier: ihr Führer Vegetarier! Hätt er meinen Preßsack gekannt, wär unser Land jetzt nicht aufgeschmissen, hätt er den Krieg eiskalt herumgerissen …
Werner Fritsch: Die lustigen Weiber von Wiesau (2000)

Fremdling: Reden wir über Rußland!
Max Frisch: Rip van Winkle (1953)

Der Arzt von Bubendorf hatte kopfschüttelnd den Totenschein ausgefüllt. Daß eine sich mit Pralinen zu Tode stopfte, sei ihm noch nie vorgekommen, hatte er gemeint und gefragt, ob die Tote jemals etwas anderes als Pralinen gegessen habe. Er glaube nicht, hatte Melker wehmütig geantwortet.
Friedrich Dürrenmatt: Durcheinandertal (1989)

Der Mensch ist gut, sein Wesen rational, und alle seine Leiden sind hygienisch und sozial bekämpfbar, dies einerseits, und andererseits: die Schöpfung sei der Wissenschaft zugänglich – aus diesen beiden Ideen kam die Auflösung aller alten Bindungen, die Zerstörung der Substanz, die Nivellierung aller Werte, aus ihnen die innere Lage, die jene Atmosphäre schuf, in der wir alle lebten, von der wir alle bis zur Bitterkeit und bis zur Neige tranken: Nihilismus.
Gottfried Benn: Nach dem Nihilismus (1931)

Ein Übeltäter, ungeschoren davongekommen, nickt zwar oft ein, wo er sitzt oder steht, wie so mancher unstet Flüchtige, schläft dann auch viel, tief und geräuschvoll – nur kennt er keine Müdigkeit, geschweige denn jene, die verbindet; bis zu seinem letzten Röchler wird er durch nichts mehr auf der Welt müde zu kriegen sein, es sei denn durch seine endliche, insgeheim vielleicht sogar von ihm selber herbeigesehnte Bestrafung. Und mein ganzes Land ist durchsetzt von derartigen Unermüdlichen, Putzmunteren, bis hin zu den sogenannten Führungskräften; statt je auch nur für einen Augenblick den Zug der Müdigkeit zu bilden, setzt dreist sich in Szene ein wimmelnder Haufen fortgesetzter Gewalttäter und Handlanger, ganz andern als den oben beschriebenen, von alt, doch nicht müde gewordenen Massenmord-Buben und -Dirndeln, der landesweit eine Nachkommenschaft von gleichermaßen ewig aufgeweckten Kerlchen abgesondert hat, welche dabei sind, auch schon die Enkel zu Spähtrupps zu drillen, so daß in dieser gemeinen Mehrheit für all die Minderheiten nie ein Platz sein wird zu der so nötigen Sammlung in einem Volk der Müdigkeit; in diesem Staat wird ein jeder mit seiner Müdigkeit bis ans Ende der Geschichte dieses Staats mit sich allein bleiben.
Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit (1989)

Es hatte die Würkung, die gemeiniglich gute Bücher haben. Es machte die Einfältigen einfältiger, die Klugen klüger, und die übrigen Tausende blieben ungeändert.
Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbrevier (hrsgg. v. Gisbert Haefs 1988)

2 Antworten auf „Reisen im Regal (15)“

  1. Nette Schnipselei..
    Hätt ich wohl auch mal gern gelesen – so im Ganzen. Nur plagt mich auch diese Unermüdlichkeit der spähende Sinne. Das beisst sich! Zudem denn noch die feste Ahnung, wenn ich mich von der Leine lasse, werd ich denn ganz versacken. Und eben wissend darum, der jämmerlichen Gestalt wegen – nicht nur im Spiegel, reiss ich mich halt zusammen und fang dieses „Lesen“ garnicht erst an! .. ;*)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert