(Die Vergangenheit ist, so viel weiß man, lang her. Manchmal sehr lang. Dies ist ein popmusikalischer Rückblick aus einer fernen Welt auf eine ferne Welt, geschrieben am Vormittag des 3. November 2000.)
Wir werden dieses Jahr nach einem Song von Blueboy taufen: „Melancholia“, denn wem in diesem Jahr in Großbritannien eine fröhliche Band begegnet ist, die nicht blöd oder Snuff war, der hat sich geirrt. Es begann mit den Longpigs, und es endet (vorläufig) mit JJ72, und daß jedes dritte Wort „Travis“ war, wollen wir gar nicht erwähnen.
Melancholie, wenn sie zu solcher Größe anschwillt wie die der britischen Musik des Jahres 2000 von Doves bis Sparklehorse, Animalhouse bis Six By Seven, von Richard Ashcroft bis My Vitriol und Beautiful South bis Oslo, kündet von epochalen Abschieden, von der Trauer buchstäblich um alles, von der Angst vor allem, was kommt, wenn nichts mehr kommt. „Downhill From Here“ (Snow Patrol): So schön und mit soviel Vertrauen wurde vielleicht noch nie gelitten. Wer sich 1978 oder 1990 oder 1969 auf eine Bühne gestellt hätte und „Bumble Bee“ (JJ72), „For Those Who Cannot Weep“ (Subcircus) oder „If You Have To Go“ (Geneva) mit einer solchen Inbrunst gesungen, wie das die Interpreten heuer taten, dem hätte man – je nach Jahr – eine Lobotomie verpaßt, das Heroin weggenommen oder ihn für Brett Anderson gehalten.
Freilich, übertrieben: nicht bloß Abschied war zu zelebrieren, sondern auch manche Rückkehr, etwa die von Gary Numan (dramatisch!), Duran Duran (tränenbeladen!) und ihren Lehrlingen Mansun (weltschmerzlich!), XTC und Dickon Edwards (Ex-Orlando) mit seiner neuen Band Fosca und dem (traurigen) Meisterwerk „On Earth To Make The Numbers Up“. Hat aber praktisch niemand bemerkt, weil alle so sehr am Pathologieren waren. Oslo, Linoleum, Embrace, Polak, sogar Paul Weller („Love-Less“) und Robbie Williams („Singing For The Lonely“) folgten dem „Headstart For Nothing“ (Pacific Radio). Kein Wunder, daß eigentlich für solche Töne Zuständige wie die Tindersticks, Pulp, Suede, Morrissey, Marion und Whipping Boy schwiegen, während Wiederveröffentlichungen von Nick Drake, Magazine und Associates wie neu wirkten. Die Gaudi-Buddies Reef klangen zumindest müde, und selbst Oasis versuchten sich kläglich am tragischen Metier – bauten mit „Where Did It All Go Wrong?“ das Motiv, dem die brüderliche Katharsis folgte, ehe der letzte Akt des Gallagher-Dramas (Motto: Operationen alle mißlungen, Patient stirbt einfach nicht) peinlich verebbte und das Publikum nach Hause ging, ohne zu bemerken, daß die mehrfach umbesetzten Akteure nach dem Vorhang noch mal auf der Bühne erschienen.
Überhaupt waren im Auditorium bemerkenswert viele Rücken zu sehen, deren dazugehörige Gesichter angeregt verfolgten, wie sich am anderen Ufer des Pop-Ozeans wilde, halbnackte Muskelmänner ihre Gitarren in den Hintern steckten und das fröhliche Pizza-Chips-Wettkotzen zum Mega-Trend erhoben. Die neuen Brit-Shoegazer hatten es schwer, sich in diesem Circus durchzusetzen, und verzichteten daher gleich auf den Versuch. Nicht nur Radiohead und die Super Furry Animals begingen kommerziellen Selbstmord – selten wurden so viele Platten gemacht, denen man anhört, daß sie eigentlich nur fürs eigene Wohnzimmer gemacht wurden, von Sparklehorse bis Black Box Recorder, von Superstar bis Fonda 500, von Candidate bis Clinic, von Dakota Suite bis Gentle Waves, auch Coldplay tönt am erträglichsten im Dunkeln, allein – „Actually It’s Darkness“ (Idlewild).
Das alles hat selbstverständlich (wie immer) auch mit zeitgemäßen Drogen zu tun. Während es in Deutschlands Toiletten bis in die obersten Etagen des Reichstags hinauf vor Koks nur so staubt, enthemmte Börsen-Handianer und Reklamedäumlinge in der Feierabenddisco mit dunkelroten Gesichtern Scooter-Befehle nachbrüllen und sich zu Limp-Bizkit-Klumprock Bier in die Hose schütten, schwört London aufs Feierabendheroin. Das ist billig und schmutzig und macht ein bißchen gloomy. Wer drei Stunden Belle & Sebastian hört, weiß, wie es sich anfühlt, und wer in letzter Zeit Liam Gallagher gesehen hat, erinnert sich halbdunkel an die späten siebziger Jahre, als Jimmy Page und Keith Richards (und die Roadies von Atomic Rooster) ähnlich aussahen.
Damals kam die Reaktion wie ein Genickschlag – die New Wave erfand (unter anderem) den Neon-Chic der achtziger Jahre. Eine der drei besten Bands hieß Ultravox!, einer ihrer besten Songs „My Sex“. Einer der besten Songs auf dem nach fünf Jahren Entzug heuer doch noch erschienenen zweiten Album von Elastica heißt ebenfalls „My Sex“, aber auch Elastica verlegten sich vom Zerschlagen aufs Trauern: „Nothing Stays The Same“ – Neon-Chic mit kaputter Röhre. Selbst auf dem Comebackalbum einiger PIL- und Killing-Joke-Veteranen als The Damage Manual hat die Revolution nur noch die Müllhalde zum Ziel, zum Suhlen. Von Primal Screams Atombombenkamikaze „Xtrmntr“ ganz zu schweigen.
Was das alles ist? Ein letztes trotziges Aufbäumen vor der Tsunamiwelle des kulturellen Totalkapitalismus mit seinen grinsenden Armeen von Britneys und Arschgitarren? Ich hatte mal die Idee, daß die britische Popmusik eine knappe Sekunde vor dem ersten Wire-Song zu Ende war und danach alles von vorne losging. Vielleicht ist die Trauer so apokalyptisch, weil diesmal auch die schöne Zeit der Wiederholungen vorbei ist und niemand weiß, was kommt. Die ewige Gleichförmigkeit eines wimmelnden Ameisenhaufens? Eine Explosion aus dem Nichts? Wir werden’s hören. Und irgendwann auch wieder lachen.
(Ob dieser Text damals irgendwo erschienen ist, weiß ich leider nicht mehr. Es war keine leichte Zeit.)
Der Beitrag, der in der Tat sehr vieles heute längst Vergessenes und Verstaubtes (Oasis, Morrissey) behandelt, erschien 3 Tage zu früh, da am 6.11.2000 „The Unutterable“ erschien, Mark E Smiths zweiter Beweis, dass er aus den Trümmern seiner alten Band und seiner Existenz gewitzter und stärker hervorging als seine alten Mitstreiter, denen er auf offener Bühne in New York – um es vorsichtig zu formulieren – den Laufpass gegeben hatte. The Fall machten dann noch erfreuliche 17 Jahre weiter, bevor Smiths Leben viel zu früh endete. „The Unutterable“ hört sich immer noch famos an.
Oh, danke für die wundervolle Erinnerung … Ich habe „The Unutterable“ freilich schon ein paar Wochen zuvor gekriegt und die gesamte (sehr kleine) Redaktion eines vergessenen Online-Magazins sowie diverse wehrlose Nachbarn damit gequält. Und Ende Oktober folgende Kurzrezension dazu geschrieben (die später als Grundlage für einen längeren Text zu „Formerly Country on the Click“ herhalten mußte; den such ich auch noch raus):
Mark E. Smith gehört zu den Leuten, die man nicht so gern im Haus hat: Erst trinkt er Kühlschrank und Keller leer, entwirft dann wilde Verschwörungstheorien um grüne Männer mit gelben Köpfen, die man nur besiegen kann, indem man das gesamte Mobiliar zertrümmert, alle anwesenden Personen lauthals beleidigt und anschließend verprügelt, wilde Parolen auf die Straße brüllt und der endlich anrückenden Polizei aus dem Fenster entgegenpinkelt. Als sich Mark E. Smith von seiner Frau trennte, tat er das auf offener Bühne, mit ungefähr neun Promille und in etwa so galant wie ein schlecht gefesselter Pitbull. Nein, so einen hat man besser nicht im Haus.
Seine Platten – oder ein paar davon, denn es sind insgesamt ungefähr 35 – hat man schon im Haus, aber man hört sie nur, wenn man Kühlschrank und Keller leergetrunken hat und die grünen Männer mit den gelben Köpfen bemerkt. Zweifellos hat Mark E. Smith mit seiner Band The Fall mehr schlechte Platten gemacht als irgendein Mensch sonst. Das ist schade, denn es gibt so viele Momente, wo einem nur noch Mark E. Smith helfen kann, daß man sich schon wünscht, er würde endlich mal was richtig Gutes zustandebringen. Zuletzt war er auf Elasticas zweitem Album zu Gast, da grölt er mit der großen Geste des Wir-hauen-alles-zusammen-und-zünden-die-Trümmer-an-ha-ha-Revoluzzers irgendwas wie „crash barrier!“ oder „trash warrior!“, was kein Mensch versteht, was aber trotzdem Lust macht, alles zusammenzuhauen und die Trümmer anzuzünden, ha ha! Wer wie ich ohne tägliche Morrissey-Dosis nicht leben kann, braucht Mark E. Smith, zum Runterkommen, oder umgekehrt.
Also versucht man es immer wieder. Zur Zeit stehen weltweit Hunderttausende, die ähnlich empfinden wie ich, vor den Regalen in ihrem Plattenladen und werfen einen langen skeptischen Blick auf »The Unutterable«. Hm, schon wieder ein neues Fall-Album. Wenn die Hunderttausenden alle zugreifen täten, wäre Mark E. Smith schon lange reich und tot, also muß es einer stellvertretend tun. Ich übernehme das.
Auf seinem Kreuzzug zur Ruinierung aller Plattenfirmen dieser Welt ist Smith jetzt bei Eagle Records angekommen, einer etwas seltsamen, ganz bestimmt nicht coolen Firma, wo sonst Metallica-Tribute-Alben und Platten von Yes erscheinen. Das macht ein etwas mulmiges Gefühl, wenn das Gefühl beim Erwerb einer Fall-Platte noch mulmiger werden kann.
Aber, hey! »The Unutterable« ist der Hammer!
Noch ein nettes Fundstück von einem Bootleg (Samstag, 27. Oktober 1979, Bircoats Leisure Centre, Doncaster): „Good evening, we are The Fall. The difference between you and us is that we have brains.“