(periphere Notate): Immergleichheiten

Neulich bin ich am Königsplatz vorbeigeradelt, wo ein paar dutzend Menschen (es mögen auch hundert gewesen sein) eigentümliche Fahnen schwenkten: etwa die Flagge von Preußen, viel schwarz-weiß-rot (aber ohne „Antifa“-Emblem) und schwarz-rot-gold mit Adlern und ähnlichem. Außenrum waren (gefühlt) etwa zweitausend Polizisten und hunderte Polizeifahrzeuge stationiert. Ich fragte einen Polizisten (der wie seine Kollegen erstaunlich zivil war, also nicht komplett vermummt und ohne Kampfanzug und Maschinenpistole). Um was es da gehe oder wer da demonstriere. „Die Reichsbürger“, meinte er seufzend.

Das fand ich erstaunlich. „Dürfen die das denn?“ fragte ich. „Leider ja“, sagte er. Auf der Webseite des bayerischen Staatsfunks erfuhr ich hinterher, die seltsame, irgendwie phantomartige Gruppierung plane für das ganze Wochenende mehrere Veranstaltungen in München, um die Wiederherstellung des deutschen Kaiserreichs von 1871 zu fordern.

Dagegen bin ich grundsätzlich, und ich meine mich zu erinnern, daß selbst der preußische König Wilhelm, als er 1871 Kaiser werden sollte, bittere Tränen vergossen haben soll, weil er das nicht wollte. Der bayerische König Ludwig II. ließ sich längere Zeit wegen diverser Unpäßlichkeiten entschuldigen und stimmte dem Beitritt Bayerns zu dem unseligen Reich erst zu, als man ihm Unsummen für seine Schloßbauarbeiten versprochen hatte. Aber obwohl ich diese Reichsgründung für den Ursprung der deutschen Katastrophe, der deutschen Kriege von 1914 und 1939 bis heute halte, finde ich es legitim, daß jemand dieses Reich wiederhaben möchte. Ich möchte ja auch so manches, was niemanden groß interessiert.

Allerdings war für dasselbe Wochenende in München auch eine große Demonstration gegen den Krieg der NATO gegen Rußland geplant, und da muß man sich schon ein bisserl wundern. Oder eben nicht, denn nichts kommt den Kriegstreibern und Befürwortern mehr entgegen als diese schöne Gelegenheit, mal wieder vollkommen disparate Menschengruppen in einen Topf werfen zu können: „Kriegsgegner und Reichsbürger legen München lahm!“ Ob es solche Framings gab, weiß ich nicht, weil ich die Propagandamedien so weit wie möglich ignoriere.

Trotzdem meine ich mich auch zu erinnern, daß das Vorzeigen deutscher Reichs- und Reichskriegsflaggen vor kurzem noch ziemlich verboten war. Oder irre ich mich da? Es sind verwirrende Zeiten.

Im Sommer habe ich das Bedürfnis, nackte Menschen zu sehen. Sie müssen nicht schön sein (oder was gerade dafür gilt), nicht weiblich, nicht jung oder sonst was; an dem Bedürfnis gibt es keine, zumindest keine mir ersichtlichen sexuellen Aspekte. Es hat mehr mit Formen und Details zu tun, mit Zusammenhängen, Verbindungen und Verhältnissen unterschiedlicher Einzelheiten.

Früher haben mich bekleidete Menschen mehr interessiert. Heute scheint mir, es habe damals bekleidete Menschen gegeben und gebe sie heute nicht mehr. Fast alles, was Menschen heute tragen, wirkt auf meinen Blick eigenschafts- und belanglos. Es sind nur Stoffstücke, bisweilen (oder oft) bedruckt mit nichtssagenden Botschaften, etwa Markennamen, die eben nicht mehr und nichts anderes sagen als: „Ich trage ein Stück Stoff, das die Firma XY hergestellt hat.“

Was das soll, weiß ich nicht. Dabei stehen auch auf manchen meiner Kleidungsstücke solche Herkunftshinweise. Oder Namen von Bands, die es meistens nicht mehr gibt, womit auch nicht mehr gesagt ist als daß ich die Musik irgendeiner Band schätze. Was freilich eine minimale unterschwellige Botschaft enthält, eine Art Zugehörigkeitssignal: Wer ein T-Shirt mit der Aufschrift „Cockney Rejects“ oder „Skids“ trägt, hat mit der breiten „Mainstream-Masse“ möglicherweise nicht viel zu tun oder gibt sich wenigstens Mühe, diesen Anschein zu erwecken.

In einer Verlagsvorschau sah ich einst das Titelbild eines bald erscheinenden Buchs. Es zeigte zwei Mädchen und unter anderem das Wort „Pupertät“. Das – vor allem den assoziativen Zusammenhang mit gewissen Verdauungsgeräuschen – fand ich so lustig, daß es mich zu einem Text inspirierte, in dem zwei Menschen dieses Wort (leicht abgeändert zu „Poppertät“) immer wieder äußern, ohne es zu verstehen und ohne zu verstehen, daß sie es nicht verstehen. Das fanden dann auch andere Leute, denen ich den Text vorlas, lustig.

Ich weiß nicht, ob der Titel des Buchs vor Erscheinen korrigiert wurde. Es kommt ja heute nicht selten vor, daß selbst auf Buchtiteln und Magazintitelseiten Stilblüten stehen, weil niemand mehr Zeit und Lust hat, das Zeug, das sowieso umgehend im Altpapiercontainer oder in „Zu verschenken“-Kisten landet, noch mal anzuschauen, bevor es in Druck geht. Zeit sei Geld, hieß es einst bei Dagobert Duck. Wieso es heute so wenig Zeit gibt und die Zeit immer weniger wird, weiß ich übrigens nicht.

Gestern las ich einen Text von Max Horkheimer aus dem Jahr 1959, in dem es genau einen (scheinbaren) Druckfehler gibt: das Wort „Pupertät“. Weil ich nicht glauben konnte, daß Horkheimer, dem Verlag Alfred Kröner und dem Herausgeber des Buchs (einem Rundfunkredakteur), daß also mindestens drei Leuten von einiger Bildung und noch dazu im Jahr 1959, als es noch viel mehr Zeit gab, ein derart auffälliger und lustiger Fehler durchgegangen sein könnte, begann ich zu recherchieren und erfuhr, die häufige (!) Falschschreibung des Begriffs rühre von der regional unterschiedlichen Aussprache her. Aus irgendeinem Grund machte mir das Herrn Horkheimer (von dem ich nicht weiß, wie er ausgesehen und gesprochen hat) sympathisch.

Übrigens spüre ich das erwähnte Bedürfnis nach dem Anblick nackter Menschen im Winter nicht. Im Gegenteil finde ich es seltsam, wenn auch amüsant, im Januar auf dem Flauchersteg zu stehen und zu beobachten, wie Menschen in die Isar steigen. Vielleicht ist das Bedürfnis dann einfach gestillt und es geht wieder mehr um Gesichter, Worte, andere Dinge. Kleidung ist auch dann uninteressant, weil sie kaum weniger unscheinbar ist und einheitlich nichtssagend bleibt.

Ich überlege, Kleidungsstücke mit erfundenen Markennamen bedrucken zu lassen, die absichtlich „grotesk“ und unattraktiv klingen, etwa „Nalm“, „Twat“, „Röps“ oder „Gurp“. Im selben Moment stapft eine Frau an mir vorbei, die ein zeltartiges T-Shirt mit dem Aufdruck „GURP“ trägt. Es handelt sich wohl um eine Art Zeltlager, was der Paßform einen assoziativen Sinn verleiht, wenn man es weiß.

Für Frisuren gilt heute überwiegend das gleiche wie für Kleidung: Es gibt sie nicht mehr. Die meisten Männer sind kriegstüchtig kahlrasiert oder tragen einfach Haare, die Mehrheit der Frauen letzteres. Allerdings sieht man immer öfter Bärte, meistens südöstlich anmutend, zunehmend aber auch solche, die man von Photos aus Deutschland in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg kennt. „Ondulierter Zeitgeist“, denke ich spontan.

Das „Baden“ als Ritual besteht zum geringeren Teil aus dem Hineinspringen in einen Fluß oder einen See. Vielmehr fängt das ganze spätestens damit an, daß das Handtuch täglich auf eine bestimmte Art gefaltet und in den Radlkorb gelegt wird, daß der immer gleiche Weg am Stand des libanesischen Obsthändlers vorbeiführt, wo immer das gleiche (eine Viertelwassermelone) erworben und ein im wesentlichen auch immer ähnliches Gespräch geführt wird. Das Klettern vom Steg, die paar Schritte zur Kiesbank, das Herauswühlen des Buchs, das wie immer unter dem Salat im Rucksack liegt, der mündlich-händische Gruß an Umliegende, die man so lange kennt, daß man gar nicht mehr bemerkt, daß man sie eigentlich nicht kennt, – alles immer das gleiche.

Auch der Gang ins Wasser, das Dahintreiben in der schäumenden Gischt, der Schlupf hinter den Wasserfall, die vorsichtige Berührung der dort wartenden Fische, das Hinaustreten durch die gläsern stürzende Wucht, das kurze Frottieren der Haare, die mehrmalige Wiederholung dieser Vorgänge, das Abschiedsgespräch mit einem Bekannten (siehe oben) über die unhaltbaren Zustände („Ich kann nicht mehr, bin seit zehn da!“) und den jodelnden Auwidada (einen Vietnamesen, den ich so nenne, weil er mich und andere stets fröhlich mit diesem Spruch begrüßt und ansonsten den ganzen Tag Bier und Wein trinkt und seine wachsende Schar mit Bier und Wein versorgt), das sporadische Eintreffen von lieben Freunden, mit denen ich seit Jahrzehnten die gleichen Gespräche führe, der irgendwann einsetzende Unterzucker, die tägliche Entscheidung (dieser oder jener Biergarten), die Heimfahrt im anbrechenden Dunkel und alles dazwischen und darunter und daneben – auch das alles immer das gleiche.

Es kommt zu unmerklichen Verschiebungen. Die Kiesbänke sehen nach jedem Hochwasser etwas, manchmal auch radikal anders aus. Menschen verschwinden beziehungsweise kommen hinzu, manchmal trifft man auch jemanden, den man sonst nie trifft. Das überrascht jedesmal: Wie kann man zum Baden gehen, ohne das jeden Tag zu tun?

Darin nämlich liegt das beglückende Element des Rituals: Es öffnet sozusagen den Raum der Zeit, weil die Immergleichheit das zerstörerische Wirken der Informations- und Produktionsmaschine verhindert oder wenigstens ausblendet, wodurch eine – um Hegel (via Gadamer) zu zieren – „Einhausung“ des Menschen bewirkt wird: „Die symbolische Wahrnehmung als Wiedererkenntnis“, schreibt Byung-Chul Han dazu, „nimmt das Dauernde wahr. Die Welt wird dadurch von ihrer Kontingenz befreit und erhält etwas Bleibendes.“

Das Bleiben der Welt im Vergehen der Jahre erscheint auf den ersten Blick vielleicht paradox, ist es aber nicht. Gewisse Augenblicke, Momente, Tage kehren jedes Jahr wieder. Die Zeit verläuft beim „Baden“ anders – nicht geradeaus nach vorne, sondern im Kreis, wie der liebe Freund gestern (oder war es vorgestern?) meinte. So geschieht immer das gleiche, und in dieser Immergleichheit entfalten sich das Herz, der Geist und das Glück. Ich kenne Menschen (ohne sie zu kennen), die das noch viel exzessiver und intensiver betreiben als ich.

Das Geheimnis ist, daß es nur dann geschehen kann, wenn man es immer wieder tut oder vielmehr: nicht tut, sondern lebt. Einmal „ausnahmsweise“ baden zu gehen und ansonsten in der die Seele zerspanenden Routine verhaftet zu bleiben, das führt nur zu Verwirrung und Überforderung. Die man den Leuten, die das tun, übrigens ansieht: Sie sitzen unruhig und unsicher da, betreten das fremde Wasser scheu und fremd, wedeln Wespen weg, schauen alle zwei Minuten auf ihr Steuerungsgerät, packen unvermittelt und ungeschickt zusammen, sind wieder weg und kommen nicht wieder. In dem Mitleid, das ich angesichts der gänzlich fehlenden Souveränität für sie empfinde, ist keine Spur von Arroganz und Überheblichkeit.

Immer deutlicher fällt mir auf, was ich im Grunde schon als Kind beobachtet habe: Mit der finanziellen „Wohlsituiertheit“ steigen offenbar auch die Unsicherheit im Umgang mit der Welt, der Mißmut und die physiognomisch-körperliche Häßlichkeit. Vielleicht hängen alle drei zusammen.

Ich bin mit einem Menschen befreundet, der großen Wert auf Äußerlichkeiten legt und einen bestechenden Sinn für Stil hat, von der Frisur über die Kleidung und seine Bewegungen bis in die Betonung einzelner Laute und die dabei (tatsächlich) vollführte Mimik. Er ist homosexuell. Ich hatte das Gefühl, daß homosexuelle Männer einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Menschen ausmachen, die Gespür und Sinn für die Schönheit der Erscheinung haben, schon als ich noch gar nicht wußte, was homosexuell ist (es hat sich sozusagen nachträglich bestätigt). Bei homosexuellen Frauen ist das meiner Erfahrung nach umgekehrt: Sie bemühen sich eher um Unauffälligkeit oder – in heute nicht mehr so häufigen Einzelfällen – grelle Häßlichkeit. Ich hoffe, man legt mir diese Bemerkungen nicht als „Homophobie“ aus.

Allerdings sieht der erwähnte Freund in seinem erfolgreichen, um nicht zu sagen: instinktiv genialen Hang zu stilvollem Auftreten fast immer so aus, als wäre er dem neunzehnten oder einem noch früheren Jahrhundert entsprungen. Daraus scheint mir ein Dilemma hervorzulugen, über das ich aber heute nicht nachdenken mag. Mit einem „Reich“ hat er jedoch nichts am Hut, egal mit welchem.

Rituale/Routine: Ich war zweimal für relativ kurze Zeit verheiratet. Daraus ergaben sich Routinen und Rituale („Lindenstraße“, „Tatort“, Pizza, Mittwochsstammtisch, Spieleabende), die mich (im späten Rückblick) den Unterschied zwischen beiden zu erkennen gelehrt haben. Der Abbruch solcher Routinen, die man für Rituale halten und deswegen ertragen mag, kann zu existentiellen Zusammenbrüchen führen: Alles ändert sich, denkt man, und alles wird nie wieder so schön sein, wie es war. Daß es nicht schön war, begreift man erst mit einigem Abstand.

Andererseits kann der Abbruch von Ritualen tatsächlich existentiell gefährlich sein. Ich hatte fast fünfzehn Jahre lang eine Art zweites Zuhause: eine Kneipe, in der ich nicht nur mindestens zweimal die Woche auf der Bühne stand und viele Menschen erfreuen und amüsieren durfte, sondern auch ansonsten arbeitete, vom Mischpult über den Zapfhahn bis in den Keller, angeschlossene „Häuser“ inbegriffen. Mit der kriminellen „Corona“-Kampagne wurden diese Rituale sehr plötzlich („disruptiv“) unterbrochen. Aber erst mit der Einführung der „3G/2G/2Gplus/1G“-Diskriminierung wurden sie tatsächlich eliminiert: Die vom Regime verfügten Berufs-, Arbeits- und Betretungsverbote samt offiziellen und offiziösen Schmutzhetzparolen über „Leugner“, „Blinddärme“, „Volksschädlinge“ et cetera zerstörten und vernichteten auf lange Sicht oder für immer Rituale, „Biotope“, menschliche Beziehungen und alles, was für eine Gesellschaft überhaupt definitiv und wichtig ist.

Besonders perfide war an diesem Verbrechen, daß ein Großteil der Opfer zu Mittätern gemacht wurde: Man zwang sie, selbst Verbrechen zu begehen, indem sie Kontakte abbrachen und Zusammenarbeiten kündigten, um nicht in den Ruch zu geraten, mit „Ketzern“ gemeinsame Sache zu machen. Die Mittäter, in vielen Fällen zu blöd, meistens aber mindestens zu verängstigt, um das Verbrechen zu durchschauen, erwiesen die Folgsamkeit und fühlten sich dabei womöglich noch „unschuldig“, weil: „Wir hatten es alle nicht leicht.“

Dabei hatten sie ja nichts zu verlieren. Sie hatten ja die Garantie, bei gehorsamster Unterwerfung Teil der Volksgemeinschaft zu bleiben. Sie konnten ja gar nicht merken, wie bösartig und brutal sie da mitgemacht haben. Sie haben ja nur mitgemacht und es nicht böse gemeint (und meistens nicht mal Fahnen geschwenkt – höchstens die mit dem Regenbogen, weil „man das halt so macht“ und für „Vielfalt“ ist).

Daß die Geschichte immer zweimal stattfindet (als Tragödie, dann als Farce), wie Hegel meinte, könnte sich als Irrtum erweisen: Nach Tragödie und Farce könnten noch der Witz, die Groteske, der Comic, der wahnhafte Alptraum und die Wiederholung als schlichte Wiederholung folgen, unter anderem.

Übrigens bin ich wenige Tage später wieder am Königsplatz vorbeigeradelt; wieder stand dort Polizei, allerdings viel weniger, und es waren keine Fahnen zu sehen. Diesmal handelte es sich wohl darum, daß jemand mit einem antiken Bajonett „Schüsse abgegeben“ hatte, weshalb er ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Man suche sich ein Genre aus.

4 Antworten auf „(periphere Notate): Immergleichheiten“

  1. „Besonders perfide war an diesem Verbrechen, daß ein Großteil der Opfer zu Mittätern gemacht wurde: Man zwang sie, selbst Verbrechen zu begehen, indem sie Kontakte abbrachen und Zusammenarbeiten kündigten, um nicht in den Ruch zu geraten, mit „Ketzern“ gemeinsame Sache zu machen. Die Mittäter, in vielen Fällen zu blöd, meistens aber mindestens zu verängstigt, um das Verbrechen zu durchschauen, erwiesen die Folgsamkeit und fühlten sich dabei womöglich noch „unschuldig“, weil: „Wir hatten es alle nicht leicht.“ (…) “

    Hallo Herr Sailer,

    Also bei Lichte betrachtet ist das Alles doch ziemlich leicht – zumal ’selbst‘ jedes Kind weiß, was richtig und falsch ist.

    Mein Verständnis, mein Mitleid, mein Mitgefühl für die zum Opfer gemachten Täter bzw. vice versa hat sich gründlich erschöpft und das Wissen darum, dass diese meine Einstellung weder konstruktiv noch versöhnlich noch sonst irgendetwas Erstrebenswertes darstellt, ändert bedauerlicherweise nix an dieser, zumal man echte Einsicht (man verzeihe mir die Anmaßung, diese erkennen zu können) weiterhin mit der Lupe suchen muss und es weiterführend so große Lupen garnicht gibt, um einen gewissen, und sei es minimalen Erkenntnisgewinn auch bei anderen, ebenso gelagerten Dingen irgendwo ausmachen zu können – also eine Art Lerneffekt mehr oder minder schlicht nicht existiert.

    Verzagen muss man deshalb freilich nicht, Sie sowieso und gleich garnicht und vielleicht haben Sie ja irgendwann einmal Lust dazu, ein paar praktikable Möglichkeiten zu skizzieren, anhand derer sich Ihre Leser wenn schon nicht eine alternative Lebensweise, so doch dennoch ein paar tatsächliche Auszeiten von diesem ganzen, jede noch so kleine und kohärente Einheit zersetzenden Wahnsinn schaffen können (baden gehen und Biergarten einmal ausgenommen – wobei: sollte das womöglich schon das gros sein?!).

    Mit erneutem Dank für Ihre nicht zu überschätzende Arbeit und besten Wünschen!

  2. Komme gerade im „Big Star“-T-Shirt (stilisierte Darstellung von Egglestons Glühbirne, weiß auf rot) von einer Party im Berliner Umland. Meine im Mittelfränkischen gebürtige Mutter spricht Budapest „Pudabest“ und Paderborn „Baderporn“ aus. Tja, die stimmhaften und die stimmlosen Plosive…

    Ansonsten wie immer herzlichen Dank, diesmal besonders für „kriegstüchtig kahlrasiert“.

  3. Noch zu den Corona-MItläufern. Der beste Text von epochenübergreifender Gültigkeit, den ich dazu kenne, ist Dietrich Bonhoeffers leicht zu findende Aufzeichnung aus der Haft „Von der Dummheit“:

    „Um zu wissen, wie wir der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind. Diese Entdeckung machen wir zu unserer Überraschung anläßlich bestimmter Situationen. Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden, bzw. sich dumm machen lassen. Wir beobachten weiterhin, daß abgeschlossen und einsam lebende Menschen diesen Defekt seltener zeigen als zur Gesellung neigende oder verurteilte Menschen und Menschengruppen. So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als ein soziologisches Problem zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung bestimmter äußerer Verhältnisse. Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß jede starke äußere Machtentfaltung, sei sie politischer oder religiöser Art, einen großen Teil der Menschen mit Dummheit schlägt. Ja, es hat den Anschein, als sei das geradezu ein soziologisch-psychologisches Gesetz. Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen. Der Vorgang ist dabei nicht der, daß bestimmte – also etwa intellektuelle – Anlagen des Menschen plötzlich verkümmern oder ausfallen, sondern daß unter dem überwältigenden Eindruck der Machtentfaltung dem Menschen seine innere Selbständigkeit geraubt wird und daß dieser nun – mehr oder weniger unbewußt – darauf verzichtet, zu den sich ergebenden Lebenslagen ein eigenes Verhalten zu finden. Daß der Dumme oft bockig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er nicht selbständig ist. Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm, daß man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen etc. zu tun hat. Er ist in einem Banne, er ist verblendet, er ist in seinem eigenen Wesen mißbraucht, mißhandelt. So zum willenlosen Instrument geworden, wird der Dumme auch zu allem Bösen fähig sein und zugleich unfähig, dies als Böses zu erkennen. Hier liegt die Gefahr eines diabolischen Mißbrauchs. Dadurch werden Menschen für immer zugrunde gerichtet werden können.

    Aber es ist gerade hier auch ganz deutlich, daß nicht ein Akt der Belehrung, sondern allein ein Akt der Befreiung die Dummheit überwinden könnte. Dabei wird man sich damit abfinden müssen, daß eine echte innere Befreiung in den allermeisten Fällen erst möglich wird, nachdem die äußere Befreiung vorangegangen ist; bis dahin werden wir auf alle Versuche, den Dummen zu überzeugen, verzichten müssen.“

  4. da hast Du ein paar „schöne“ Erkenntnisse zusammengefaßt. In dreißig Jahren Baden-Badener Leben habe ich erkannt, wie deformierend viel Geld, Wohlstand, auf die Menschen wirkt. Baden-Baden ist voller bösartiger, hinterfotziger, neidvoller, übellauniger, großkotziger frustrierter, unglücklicher tumber Intriganten. Die haben mir die früh im Leben erwachte Erkenntnis, daß die schönen Dinge im Leben nix kosten, übel genommen. Und daß ich dort trotzdem einige Einfamilienhäuser dort versoff, noch mehr… denn keiner sah mich je arbeiten….
    Gruß aus der Taiga

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