Reisen im Regal (13)

Warum sollte ich alles aufs Spiel setzen für den Versuch, noch ein Buch mit einem ironischen Lächeln herauszubringen? Was beweise ich denn schon damit, wenn ich gegen die dort kämpfe und mich selbst und alle, die ich kenne, in Gefahr bringe? So sehr ich jedoch dem Weg rücksichtsloser Eitelkeit mißtraue, dem Weg der Resignation stehe ich leider noch argwöhnischer gegenüber. Nicht für andere – sie handeln, wie sie handeln müssen – doch für mich selbst. Ich bin kein mutiger Mensch, aber ganz und gar feige sein kann ich auch nicht.
Philip Roth: Die Prager Orgie (1986)

Während der Aussprache döste Daladier, in seinem Sessel ausgestreckt, und Chamberlain gähnte. Später sagte der britische Premier, er sei in diesem Augenblick „sehr müde, angenehm müde“ gewesen.
Iwan Maiski: Das Drama von München (1972)

Professor Stelzner bemerkte, daß man den Hirschen nicht mehr trauen könne, aber noch viel weniger den Vögeln. Die flögen herum, als gäbe es nichts Wichtiges zu tun. Es sei die reine Idiotie.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel (2023)

Ich mache mich über den irakisch-iranischen Krieg her, ich möchte ihn hinter mir haben, der Weg zum Sport soll leergeräumt von Hindernissen sein. Dreißig Zeilen, hat Gilbert gesagt. Ich schreibe einen Satz hin, der keine Bedeutung hat, dann noch einen, es ist genau das Richtige. Zeitungssätze. Die Lage im Mittleren Osten spitzt sich weiter zu. Immer mehr Anzeichen deuten darauf hin, daß ein langer Konflikt bevorsteht, an dessen Ende es keinen Sieger geben wird. Dann werfe ich die Seite weg, sitze vor der nächsten und spüre, daß ich die Fähigkeit verloren habe, den Kommentar zu schreiben. Ich bin nicht mehr der alte, schon wieder. Mir fehlt der Mut, nein, nicht der Mut, mir fehlt die Unbekümmertheit, dreißig Zeilen zusammenzuklauben. Es wären dreißig Zeilen Abfall. Was könnte ich anderes schreiben als: Hört auf, ihr Wahnsinnigen, macht auf der Stelle Schluß! Sie würden es nicht drucken, für solche sprachlosen Ausbrüche wäre kein Platz in der Zeitung. Und selbst wenn sie es druckten, würde sich kein Schwanz danach richten.
Jurek Becker: Aller Welt Freund (1982)

[I]ch begriff, wie eine Diktatur beginnt: mit der Freiheit, Angst und Zweifel für die Unbedingtheit einer Stichflamme einzutauschen.
Uwe Tellkamp: Das Blockorgan (2024)

Zeitweise prasselt es so stark, daß sich die Grenze zwischen der elektrisierten, zuckenden Seeoberfläche und dem einschlagenden Regen auflöst und der See sich mit dem vom Himmel herabstürzenden Wasser vereinigt, ein See, der jetzt kein See mehr ist, sondern ein schüttelnder Wasserkörper mit Auswüchsen in alle Himmelsrichtungen, so daß es selbst für einheimische Fische schwierig sein muß, zu bestimmen, wo nun der See aufhört und der Regen beginnt. Es soll Fische gegeben haben, die in hirnverbrannter Unvernunft die von der Natur gesetzten Grenzen ihrer Existenz mißachtet [haben] und übermütig die Wassersäule hochgeschwommen sind und dann, als der Regen aufgehört hat, verdutzt oben in den Wolken hängengeblieben sind, während sich die ausgeregneten Schwaden, jetzt in der Form von hübschen, blumenkohlartigen Kumuli, über die Alpen hinweg verzogen haben. Man kann nur spekulieren, was sich die glücklichen Fische, als sie den Kopf erstmals durch die Wolkendecke streckten, gedacht haben, angesichts der prächtigen Aussicht auf ein bekanntermaßen schönes Land: das glitzernde Blau des Zürichsees, ihrer Heimat, der selbst wie ein gekrümmter und etwas ausgehungerter Fisch in der schlingpflanzengrünen Landschaft liegt, das Weiß der Alpenspitzen wie die blankgeputzten Unterseiten der heimischen Segelboote und vor allem Licht, viel Licht. Und so ist es zu erklären, daß selbst in den abgelegensten Bergseen Fische zu finden sind, die jenen des Zürichsees nicht unähnlich sind.
Rolf Dobelli: Fünfunddreißig (2003)

[D]er kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit.
Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (1887)

Tatsächlich aber zeigt sich hinter dem Mitgehen der Objekte der Informationspolitik mit der jeweils herrschenden politischen Meinung nicht selbständiges Denken, kein politisches Bewußtsein, das ja ziemlich konstant wäre, sondern ganz im Gegenteil eine affirmative Grundhaltung. Subjekte der gesellschaftlichen Kommunikation können die Empfänger der Massenkommunikation nicht sein wegen der autoritär eingleisigen Struktur dieser Kommunikationsweise im besonderen, und weil sich für die Mehrheit generell die entscheidenden ökonomischen und politischen Entwicklungen der Gesellschaft hinter ihrem Rücken vollziehen.
Karin Buselmeier: Zur Diskussion über Fernsehwirkung (1974)

Unter der Bevölkerung herrschte in jenem Winter eine große Ansteckungsangst. Die Leute hatten eine starke Scheu vor Bazillen, jeder hielt den anderen für infiziert und für einen Überträger von Bazillen. Damals litten auch viele alte Bekanntschaften und nachbarliche Freundschaften. Mit Bazillen, sagte der Tierarzt, hat diese Seuche übrigens gar nichts zu tun, hier handelt es sich um Viren. Die Leute blieben aber bei den Bazillen. Mach’ einmal der Landbevölkerung den Unterschied zwischen Bazillen und Viren klar, seufzte der Tierarzt resignierend. Es gebe zwischen Bazillen und Viren aber einen Unterschied wie zwischen Pferden und Kühen. Das Beispiel mit Pferd und Kuh war schlagend. Also Viren, sagen Sie, Herr Doktor. Die Tierärzte waren in dieser kritischen Zeit bei der Bevölkerung nicht beliebt, die Viehbesitzer hielten die Tierärzte selbst für die größten Seuchenausbreiter. Die Bauern gewöhnten sich ab, die Tierärzte mit Handschlag zu begrüßen.
Noch Jahre später, als sich der Tierarzt ein Haus baute, sagten die Bauern: Das verdankt er der Seuche. Dieses schöne Haus verdankt der Herr Doktor einzig und allein seinen Viren.
Alois Brandstetter: Vom Schnee der vergangenen Jahre (1979)

Es ist klar, daß jeder normale Mensch es als absolute Vergewaltigung seiner Rechte ansehen muß, wenn er sein Kind der staatlichen Willkür von Impfzwang oder Kriegsdienst ausliefern muß.
Norbert Müller: Kant als Falle (2024)

Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede „unpersönliche“ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion.
Friedrich Nietzsche: Der Antichrist (1895)

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