Der Sonntagsbrief nach Belgien (eine Anekdote)

Es ist eine seltsame Idee, am Sonntag einen Brief nach Belgien schicken zu wollen. Aber wieso eigentlich nicht? Schließlich hat man da Zeit und, wenn das Wetter nicht zum Baden taugt, nicht viel zu tun. Einen Postbeamten braucht man für so etwas heutzutage auch nicht mehr, weil man Briefmarken ja nicht nur schon seit vielen Jahren aus Automaten zwar nicht mehr lustig herauskurbeln, aber – falls mal einer der Kästen nicht defekt ist – immerhin erwerben kann. Und über die Preise informiert die moderne Auskunft: das Internet.

Dort erfahre ich Neues: Es gibt keine Büchersendungen mehr. Die waren mal eine recht soziale Erfindung: Man konnte Bücher und Broschüren zu günstigeren Preisen als Briefe in entsprechender Größe herumschicken – mußte den Umschlag allerdings zur Prüfung offenlassen (das heißt: nur mit einer Musterklammer verschließen), damit deutschdeutsche Beamte nachschauen konnten, ob da wirklich nur kommerziell Gedrucktes und nicht etwa doch eine persönliche Nachricht enthalten war, womit man sich eine staatliche Dienstleistung oder vielmehr Gnade (des Preisnachlasses) sozusagen erschlichen hätte.

Heute gibt es „Büwa“; das heißt: Bücher-/Warensendungen. Die sind allerdings empfindlich teuer, dafür darf man sie fest verschließen, wozu auch immer. Ins Ausland darf man so etwas allerdings nicht verschicken, und es gibt „Büwa“ auch nur noch ein paar Tage lang, dann kommt wieder was Neues, vermutlich.

Als Alternative für Büchersendungen nach Belgien dient irgendeine Versandform mit dem Zusatz „XS“, also extrem klein, was aber größer als ein Brief sein darf und jedoch leider so exorbitant teuer ist, daß ich lieber mal bei den „Wettbewerbern“ schaue, ob die ebenso unverschämt sind. Sind sie wenigstens annähernd, zudem versteht man nicht, wie man vorgehen müßte, beziehungsweise braucht einen eigenen Drucker und eine Filiale oder Abgabestelle in der Nähe; manche schicken sowieso nichts nach Belgien; das wird so nichts.

Eine Möglichkeit bleibt noch: der Versand als altmodischer Brief, nun „Großbrief“ genannt. Der ist zwar teuer, aber nur etwas mehr als halb so teuer wie das andere Dings. Allerdings – und das ist nun doch neu – darf nichts mehr als Brief verschickt werden, was nicht persönlich verfaßt ist, also zum Beispiel: keine Broschüre.

Wieso sich hier die ganze Geschichte sozusagen ins Gegenteil verdreht hat, fragt man sich besser nicht. Da landet man automatisch bei der allgemeingültigen Erkenntnis, daß heute so gut wie jeder Begriff das genaue Gegenteil dessen bedeutet, was er mal bedeutet hat, und daß sich das logischerweise nicht dauerhaft auf den Bereich von Politik und Propaganda beschränken läßt. Man könnte auch darüber nachdenken, weshalb und wozu auf diese Weise Artikel 10 des Grundgesetzes aufgehoben wurde und ob das vielleicht mit dem zweiten Absatz dieses Artikels zu tun hat, dem darin genannten „Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes“. Und so etwas sind keine Sonntags-, sondern Werktagsgedanken.

Jedenfalls kostet mein Brief nach Belgien drei Euro siebzig, die ich als Kleingeld in die Hosentasche stecke und losradle. Alle Postfilialen in unserer Umgebung sind nach diversen Verlegungen und Umbauten seit einiger Zeit komplett geschlossen und hätten auch früher sonntags nicht aufgehabt (erinnert sich noch jemand an das Nachtpostamt am Ostbahnhof?). An der Leopoldstraße gibt es allerdings einen in Untermiete der „Postbank“ in ihrem automatisch zugänglichen Vorraum geduldeten Briefmarkenautomaten samt Briefkasten ohne Personal. Leider ist der Vorraum neuerdings am Sonntag geschlossen, vermutlich aus „Sicherheitsgründen“, damit da nicht etwa ein Obdachloser sich vor dem Dauerregen in Sicherheit bringt.

Irgendwie, denke ich, macht es einen zwecks Personaleinsparung automatisch zugänglichen Raum sinnlos, wenn er dann regelmäßig zu den Zeiten, wenn kein Personal da ist, nicht zugänglich ist, aber na gut. Dann muß ich eben da hin, wo auch die sommers durch die Stadt flutenden Touristenmassen hinmüssen, um ihre Ansichtskarten und Urlaubsgrüße in die Heimat zu schicken: in die Stadt.

Am Hauptbahnhof gab es mal ein Postamt, das gibt es nicht mehr. Was es noch gibt, ist eine Art Kleinbunker mit mehreren Geldautomaten, der aussieht, als wäre der Krieg schon vorbei. Eine schmutzige, leere Ecke läßt vermuten, daß da mal Briefmarkenautomaten und Briefkästen standen. Das tun sie aber nicht mehr. Es gibt derartiges am ganzen Hauptbahnhof nicht mehr, weder im trostlosen Untergeschoß noch in der ebenerdigen Baustellenwüste. Auch die Suche in der Fußgängerzone zwischen den verfallenden Kaufhausruinen am Stachus, dem Marienplatz und dem Sendlinger Tor ist vergeblich. Übrigens fluten oder flanieren hier am Sonntag kaum Touristen – was sollten sie auch in einer Innenstadt, in der es nichts mehr gibt und wo man Postkarten weder kaufen noch frankieren noch irgendwo einwerfen kann?

Das heißt: Einwerfen könnte man sie schon. Hier und da stehen die alten Briefkästen noch herum, schauen aber so demoliert und heruntergekommen aus, daß man sie für irgendwas hält, was halt stehengeblieben ist, weil es niemand mehr brauchen konnte.

Am ehemaligen Postamt an der Theresienstraße, das zwar längst entfernt wurde, wo aber vor kurzem immer noch ein Automat samt Kasten stand, sieht aus wie nach einem Terroranschlag: ein leerer (ehemaliger) Eingang, ein paar zerfetzte Kabel, alles mit rotweißem Plastikband abgesperrt. Am ehemaligen Behelfspostamt in der Sonnenstraße ist die Tür defekt, ein Wegweiser weist um die falsche Ecke, das Amt ist aber eh nur noch eine „Postbank“, was ich in Anführungszeichen setze, weil es absurd wirken muß, wenn es zwar noch eine Bank der Post, aber keine Post mehr gibt.

Nach einem letzten Versuch in der Agnesstraße gebe ich auf und beschließe, am Montag nach einer Lösung zu suchen. Gegenüber der Ruine der ehemaligen Post ist ein kleiner Schreibwaren- und Tabakladen, der seltsamerweise sonntags geöffnet zu sein scheint. Vor dem Geschäft steht ein Tisch, da sitzt ein sympathisch wirkender junger Mann mit Deutschlandtrikot und dichtem schwarzem Bart im modischen Arab-Stil. Er fragt, ob er helfen könne. Ich frage, ob ich bei ihm Briefmarken kaufen könne. „Ja freilich!“ sagt er.

Tatsächlich zieht er ein paar Abziehbögen aus einer Schublade unter der Kasse, betrachtet sie und meint nach einigem Überlegen, den genauen Betrag von drei Euro siebzig kriege er leider nicht zusammen. Ein Zehnerl zu viel zu zahlen wäre mir jetzt auch schon egal, aber ich habe ja nicht mehr dabei. Wir betrachten beide die zwei Bögen mit Marken zu 85 Cent beziehungsweise einem Euro; da meldet meine arithmetische Intuition, daß das doch geht. Zweimal fünfundachtzig, zweimal eins, rechne ich mit dem Finger vor, und da strahlen wir beide.

Einen Briefkasten hat er leider nicht, weiß aber, daß auf der Straßenseite hinter dem Bauzaun noch so ein ramponiertes, eingestaubtes Blechrelikt herumsteht. Dort endlich wird mein Brief verklappt, von dem ich hoffe, daß er nicht in irgendeinem Amt geöffnet und durchschnüffelt, sondern möglicherweise schon in wenigen Wochen an seiner belgischen Bestimmungsadresse ankommen wird.

Vielleicht wäre es für die Zeit nach dem Zusammenbruch des derzeitigen Regimes eine interessante Idee, einen öffentlichen, öffentlich-rechtlich organisierten Briefzustellungsdienst einzuführen, notfalls mit berittenen Boten und Marken, die man zum Aufkleben erst abschlecken muß. Aber auch das sind keine zuträglichen Sonntagsgedanken. Einstweilen empfehle ich für die Übergangszeit allen verzweifelten Sonntagsbriefschreibern in München einen Ausflug in die Agnesstraße: Ein paar Marken dürften noch in der Schublade sein.

3 Antworten auf „Der Sonntagsbrief nach Belgien (eine Anekdote)“

  1. zur Zeit von Robert Schumann, dem Komponisten, vor 200 Jahren, hat ein Brief von Köln nach Düsseldorf VIER Stunden gebraucht. Zweimal täglich gab es Post. Ich tät mir wahrscheinlich ein paar Flaschen Leffe Tripel kaufen und betend diese leeren…… Ich werde mir auch zwei Flaschen kaufen und mit dir beten. Gruß aus der Taiga

  2. Kafkas Zitat, dass die Post „ein Amt ohne Ehrgeiz“ sei, zitiert ein „Postfeind“, der durch den Roman „Die Liebesblödigkeit“ von Wilhelm Genazino geistert, mit großer Hingabe. Mittlerweile repräsentiert die Post eine Aktie ohne Produktion bzw. eine Dividende ohne Leistung und entspricht also den Idealen des „derzeitigen Regimes“ (Kapitalismus) aufs Beste.
    Das kann man hinnehmen wie Tupperparties oder die Lidl-plus-App, man könnte sich aber auch Gedanken darüber machen, wie die derzeitigen Weltverhältnisse zu ändern sind. Nur taugt eben die deutsche Post nicht mehr, wie noch zu Lenins Zeiten, als Vorbild für eine straffe Organisation.

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