Nach einigen Tagen wurde ich ins Nebenzimmer verlegt. Alle Zimmer lagen in einer Reihe und waren durch Glasscheiben verbunden. Vorher hatte ich das hintere Ende der Station gesehen, vier Zimmer weit bis zu dem Jungen mit dem falschen Blut, jetzt sah ich in die andere Richtung bis zu dem dünnen Mädchen, das immer in Ohnmacht fiel.
In meinem Zimmer war jetzt der Junge mit der Nierenentzündung, der älter war als alle anderen und noch viel älter wirkte, weil er nie lachte, nur leise sprach und immer sehr bedenklich aussah. Das liege an seinen Schmerzen, wußte einer, aber mich störte die feinfühlige Murrigkeit des Jungen vor allem nachts, wenn ich mit dem neuen Jungen rechts von mir reden wollte und der Murrige immer wieder zischte, wir sollten endlich still sein.
Der neue Junge hatte amerikanische Verwandte und erzählte mir alles mögliche. Ich erfuhr, daß Bonn die Hauptstadt und München Geheimstadt war; ich erfuhr, daß in Moskau der höchste Fernsehturm stand, dreimal so hoch wie unserer. Ich erfuhr von Geheimagenten und Verbrechern und konterte mit meinen angeblichen Englischkenntnissen, die ich hätte, weil meine Familie mit der Königin von England verwandt sei. Er wollte, daß ich ihm etwas auf englisch aufschreibe, und ich schrieb so etwas ähnliches wie den Titel eines Beatlesliedes. Er behauptete, das sei kein Englisch und er werde seine Mutter fragen.
Wir sprachen über Städte, in denen er war, und Städte, die ich erfand. Seine Mutter sagte nie etwas, lächelte mich nur an und war sehr freundlich. Was der Junge hatte, erfuhr ich nicht, weil weder er selbst noch die anderen es wußten. Die Schwestern schwiegen, und die Mutter wollte keiner fragen.
Nach einer Woche wurde mein Verband abgenommen und durch einen dünneren ersetzt, der nicht mehr um die Schiene gewickelt wurde. Nun durfte ich aufstehen, aufs Klo gehen, in die hellblau gekachelte Gemeinschaftsdusche, die so groß war wie ein Hallenbad, und ich durfte in den Gemeinschaftsraum, wo die anderen Monopoly spielten.
Ich wußte, daß man von diesem Spiel verblödete, weil es nur um Geld ging, aber es machte mir großen Spaß, mit Geld umzugehen, auch wenn ich am Schluß Schulden in Millionenhöhe hatte. Zu einer Rückzahlung kam es nicht, weil ich am nächsten Tag aus dem Rollstuhl aufstehen durfte und von meiner Mutter abgeholt wurde.
(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)