Junger Unfug (Folge 7): Räder und Schrauben

Als die meisten Jungen in meinem Alter von einem Auto überfuhren wurden, war ich einer der ersten. Zwei oder drei hatten es schon vorher geschafft, mit Beinbrüchen für Aufsehen an der Schule zu sorgen, aber ich hatte etwas besonderes: einen Lastwagen.

Der stand links neben mir an der Kreuzung, die ich überqueren wollte, weil ich zu Weihnachten ein nagelneues Klapprad bekommen hatte, mit dem ich nun, seit der letzte Schnee geschmolzen war, in der Gegend herumradelte. Es war ein Rad mit kleinen Rädern, einer Lampe auf dem vorderen Schutzblech und einer großen weißen Schraube über dem Pedalkasten.

Wenn man die Schraube aufdrehte, zerfiel das Rad in zwei Teile, was manchmal unter dem Fahren geschah. Dann hielt man sich verzweifelt am Lenker fest, das Gesicht in Höhe der Lampe, und spürte, wie die Knie über den Asphalt schliffen, bis schließlich der vordere Radteil umkippte und man ein Stück Reifen oder Schutzblech ins Gesicht bekam. Die Schraube diente dazu, das Rad zu zerlegen, damit es in den Kofferraum paßte. Wir hatten aber gar keinen Kofferraum.

Wenn mein Vater die Schraube zudrehte, ging sie nicht mehr auf, aber mein Vater war nicht oft da, um die Schraube zuzudrehen. An diesem Tag hielt die Schraube, aber als die Ampel auf grün schaltete und ich losfuhr, fuhr der Lastwagen mit Anhänger links neben mir ebenfalls los, um nach rechts abzubiegen und dabei notwendigerweise meinen Fahrweg zu kreuzen.

Ich sah die ganze Szene in Einzelbildern: Da war der riesige, blecherne Kühler mit grinsenden Schlitzen, da war die Kreuzung, die ich noch nie von so weit unten gesehen hatte. Da war mein Rad, über das in Zeitlupe ein dicker Lastwagenreifen rollte. Da waren Leute, Gesichter, die nicht begreifen wollten, daß mein Rad kaputt war, das ich gerade erst neu bekommen hatte, obwohl ich es ihnen wie am Spieß entgegenschrie. Sie wollten nichts von meinem Rad hören, fragten immer, ob mir was fehle, und mir fehlte nichts außer meinem Rad.

Dann wurde ich ins Krankenhaus gefahren, wo man mir Jod aufs Knie schmierte, mich nackt auf einen Rollwagen legte, in einen Gang schob und dort vergaß. Ein Arzt kam später vorbei und wollte wissen, was ich da mache, aber das wußte ich nicht. Er nahm mich mit, fragte alle möglichen Leute, was mit mir zu tun sei, und brachte mich schließlich auf die Kinderstation für Knochenbrüche. Dort war aber kein Platz mehr. Ich bekam fürchterliche Angst, wollte unbedingt in die Station, aber man schob mich in die andere Kinderstation, wo die Organe waren.

(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)

3 Antworten auf „Junger Unfug (Folge 7): Räder und Schrauben“

    1. Klassischerweise: am Radweg rechts neben der Fahrbahn, im sogenannten „toten Winkel“. Der LKW-Fahrer hat gegenüber der Polizei behauptet, ich sei aus der anderen Richtung gekommen (womit er Vorfahrt gehabt hätte). Die Polizei meinte, um den Widerspruch zu klären, müsse ich Anzeige erstatten. Dazu war ich zu schüchtern. Wörter wie „Polizei“ und „Anzeige“ hatten damals keinen guten Beiklang.

  1. Lieber Michael, „Liegengebliebenes auf Festplatten“ ist die Grundlage von Ringsgwandls extrem empfehlenswerter Autobiografie „Die unvollständigen Erinnerungen der Tourschlampe Doris“: Es hat 4 Jahre gedauert bis er die – schon als Rohfassung recht lesbaren – Kurzgeschichten von Doris zu einem „Roman“ zusammengebastelt hat. Philip Roth, dessen 1.400 Seiten starke Biografie ich im Sommer auf dem Campingplatz in Thalkirchen gelesen habe, hat an seinen „Romanen“, die allesamt nichts anderes als autobiografisch sind, täglich von 9 to 5 in eisern verteidigter Isolation geschrieben, das meiste nach 76 Seiten zerknüllt und in einen Korb geworfen: Wenn er alle diese Anfänge nicht zerknüllt, sondern auf einem Blog veröffentlicht hätte, wäre wahrscheinlich nie ein Roman daraus geworden: Der Fluch des (fast) täglich Veröffentlichens, das die Verdichtung verhindert. Mit anderen Worten: zu einem Roman gehört dieses elende Entwerfen, Verwerfen, nochmal von vorne Anfangen, sich unfähig fühlen, nicht wissen, warum man das überhaupt sich noch antun soll, von den Frauen, die dabei mehr oder weniger zielstrebig neben einem das Durchdrehen anfangen, ganz zu schweigen. Man kann nicht alles haben, aber wenn man sich den Ringsgwandl als Vorbild nimmt, dann könnte es gelingen, wenn Du Dir mindestens diese 4 Jahre Zeit lassen könntest (die Du nicht hast): Hart, aber unfair, weil wir als Deine Fangemeinde es nunmal sind, die vom vorschnellen Erguss profitieren. Liebe Grüsse Josi

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