Ein anderer Mann in unserem Haus hatte zwei Söhne. Sie sahen ihm schon als Kinder sehr ähnlich: Alle drei hatten kurze Beine, einen breiten, kastenförmigen Oberkörper und einen würfelförmigen Kopf mit abgerundeten Kanten und kurzgeschorenen blonden Haaren.
Wenn der Vater von der Arbeit kam, betrat er den Balkon und pfiff auf zwei Fingern. Seine Söhne ließen alles liegen und stehen und rannten nach oben; wir anderen standen mit offenen Mündern im Sandkasten und fragten uns, was an diesem Vater so schreckenerregend war, daß er es geschafft hatte, die beiden kastenförmigen Jungen derart zu dressieren – strenger als Helmuts Vater konnte er kaum sein, und dessen Erziehungsversuche blieben, auch wenn sie gelegentlich sehr laut und dramatisch verliefen, ohne die geringste Wirkung.
Abgesehen davon, daß die beiden Söhne alles andere als gleich alt waren – der eine war zwei Jahre älter als ich, der andere fünf Jahre jünger –, konnten wir für die Anziehungskraft dieses Vaters nie einen Grund finden. Wahrscheinlich, vermuteten wir, hatten sie einfach Angst, weil sie noch nie etwas wirklich Schlimmes erlebt hatten. Da genügte so ein kleiner, kastenförmiger Vater.
Der Vater war nämlich kein freundlicher Mensch. Meist war sein Gesicht rot und die Lippen verkniffen, wenn er aus irgendeinem Fenster nach draußen schaute, um nach seinen Söhnen zu pfeifen, oder wenn man ihm irgendwo begegnete. Ich begegnete ihm morgens im Fahrradkeller, der nach kaltem Beton und Pisse roch und sowieso kein sonderlich gemütlicher Ort war, den ich also meist schnell zu verlassen suchte.
Der Vater hielt mich am Kragen fest und sagte: „Wie sagt man, wenn man sich morgens begegnet!“, und ich war sprachlos. Ich begegnete morgens selten jemandem, von zu Hause abgesehen, wo immer jemand aus dem Klo kam oder unbedingt hineinwollte und wo wir bei solchen Gelegenheiten alles mögliche sagten, „Schnell!“ oder „Mach voran!“ oder „Zwick ab!“ oder so was. Betrat ich am Samstagmorgen die Bäckerei, sagte ich: Grüß Gott. Also sagte ich zu dem Vater: Grüß Gott!, aber er korrigierte mich. Es heiße „Guten Morgen!“ Ich sagte: Guten Morgen! und achtete darauf, dem Vater morgens nicht mehr zu begegnen.
Das war nicht besonders schwer, weil unser Haus zwei Eingänge hatte und die kastenförmige Familie im anderen Eingang wohnte. Wenn ich an dem Eingang vorbei zum Einkaufen ging, sah ich aus sicherer Entfernung hin und hatte oft Glück: Da kam die ganze Familie in buntscheckiger Kleidung aus dem Eingang, trug neumodische, buntscheckige Kühltaschen zum Auto, und der Vater schlug nach seinem jüngeren Sohn, der immer alles abbekam und von dem man wußte (aus Erzählungen von Kindern, die an der Wohnungstür der kastenförmigen Familie gehorcht hatten), daß ihn sein Vater gelegentlich auch stellvertretend von seinem größeren Bruder prügeln ließ. Der Vater sagte dann angeblich: „Gib’s ihm!“, dann ertönte lautes Gepolter und Gebrüll.
(„Junger Unfug“ begann ungefähr 1996 mit der Idee, Erinnerungen aus meiner Kindheit aufzuschreiben und sie irgendwie motivisch zu etwas „Sinnvollem“ zu verbinden. Nachdem keiner der etwa hundert Verlage, denen ich Textauszüge und eine Beschreibung des „Projekts“ zuschickte, in irgendeiner Weise reagierte, erschienen die Texte auf einer längst gelöschten Webseite und blieben auf einer alten Festplatte liegen. 2018 oder 2019 fand ich sie wieder, schrieb ein bißchen weiter und vergaß die Sache erneut. Vielleicht kommt irgendwann der „richtige Zeitpunkt“. Vielleicht ist er jetzt. Ob ein Buch daraus wird, weiß ich noch nicht.)