Daß es die deutsche Fußballnationalmannschaft noch gibt, ist weder logisch noch aus historischer Notwendigkeit zu erklären. Ihre angebliche eigentliche Funktion – ansehnliches, punktuell womöglich gutes, schönes oder wenigstens interessantes Fußballspiel zu vollführen – hat sie zum letzten Mal ungefähr 1973 erfüllt. Seitdem ähneln die diesbezüglichen Bemühungen eher denen eines Magiers, der vergeblich versucht, eine lebendige Taube zu verschlucken, um sie hinterher als Spielkarte wieder auszuscheiden.
In sozusagen umgekehrter Proportionalität und Kausalität sorgten die kläglichen Darbietungen des millionenteuren Sortiments von Rasenläufern zeitweise immerhin für einen Nationalwahn, der den Herstellern von Plastikfähnchen und Gesichtsschmierfarben unerwartete Profite eintrug, während es der Mannschaft 2006 im ohrenbetäubenden „Schland!“-Gebrüll gelang, ihren sogenannten „Heimvorteil“ zu versemmeln und nicht einmal Zweiter zu werden.
Schon damals war das sogenannte Team kaum noch mehr als Symbolträger, wie der Fußball insgesamt und generell. Was als scheinbar harmlose Trikotbeschriftung mit Botschaften wie „Jägermeister“, „Campari“, „Remington“ und „Allkauf“ begann, weitete sich über animierende Spielfeldbeschriftungen hinaus im gesamten Sportgeschäft (das immer mehr Geschäft und immer weniger Sport wurde) so aus, daß man bei manchem Ski- oder Autorennfahrer meinen mochte, da fahre kein Mensch, sondern eine Litfaßsäule dem ebenfalls zur buntscheckigen Reklametafel umfunktionierten Ziel entgegen. Selbst die Trainer wurden bei Fernsehauftritten derart mit Wappen und Ansteckern girlandiert, daß man beim Anblick der sprechenden Weihnachtsbäume die Gesichter und das, was sie sagten, gar nicht mehr wahrnahm (wobei das „Sagen“ an sich bekanntermaßen nicht das entscheidende Qualifikationsmerkmal eines Fußballtrainers ist).
Die Palette der reklamefähigen Produkte war irgendwann erschöpft, nicht aber das symbolische Potential des menschlichen Körpers, der mit der Zeit immer weniger für das stand, was er war (ein Körper), und immer mehr für Dinge, Zwecke, Ziele, Werte und Anliegen, die er in die Öffentlichkeit tragen sollte – und zwar, das ist das Paradoxon aller symbolischen Bemühungen, um genau das, was angeblich symbolisch herbeigeführt werden soll, in der Wirklichkeit zu verhindern. Wenn sich Angehörige einer angeblich rebellischen Jugend an Tische kleben, um ein Neun-Euro-Ticket und ein Tempolimit herbeizuführen oder vielmehr vergeblich zu fordern, hat das ohnehin trügerische bis betrügerische Konzept „Demokratie“ eine Stufe der Perversion und Vergeblichkeit erreicht, bei deren Anblick man nur noch hoffnungslos seufzen und den Kopf schütteln kann. Und wenn alles, was es gibt, nur noch ein Symbol ist für etwas, was es geben sollte, in der Welt der Symbole und der damit herbeibeschworenen Scheinwirklichkeit aber nicht geben kann, dann geht das, was es gibt, davon eben nicht weg, sondern wird als unsichtbares Fundament des symbolischen Herumrödelns so fest zementiert, daß es irgendwann selbst mit ganz unsymbolischen Handgreiflichkeiten nicht mehr beseitigt werden kann, sondern ganz von selbst zusammenbrechen muß. Um irgend etwas besser zu machen, ist es dann aber meistens zu spät, siehe drittes Reich, siehe die aktuelle Situation der Grund- und Menschenrechte und der Vermögensverteilung im symbolisch besten Deutschland aller symbolischen Zeiten.
In der Welt der Symbole muß man Dax-Konzernvorstände nicht entmachten oder Dax-Konzerne überhaupt abschaffen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Da genügt es, die Vorstände gendermäßig paritätisch zu besetzen – allerdings noch ganz undivers, nach Maßgabe real vorhandener primärer Geschlechtsorgane. Wenn auch hier erst mal „One Love“ Einzug hält und das Geschlecht davon abhängt, wie man sich „fühlt“, werden die Sessel sehr bald wieder ausschließlich von Männern besetzt sein. Selbst das hat dann sicherlich symbolisch eine total befreiende Bedeutung. Millionen von schwarzarbeitenden Putzkräften werden erleichtert aufatmen: Die Welt ist gerettet! Und die Armut, die derweil aufgrund des explodierenden Reichtums ebenfalls explodiert? Die ist, wie man so sagt, „kein Thema“. Da stellt man sich einfach neben einen Bettler und trägt eine Armbinde mit der Aufschrift „Zero Poverty“. Eine NGO, die das Zeug in Bangladesch herstellen läßt und aus Steuergeldern finanziert, wird sich schon finden.
Nach dem ersten Spiel der deutschen Mannschaft beim laufenden Turnierspektakel im traditionellen Fußball-Land Katar wurde folgerichtig weniger über die erwartungsgemäße Niederlage gegen den Topfavoriten Japan diskutiert oder vielmehr geplappert als über das symbolische Versagen der Spieler: Diese hatten auf Geheiß der FIFA auf das Tragen von „One Love“-Armbinden verzichtet und lediglich beim Mannschaftsphoto eine kollektive Symbolgeste gezeigt, die man als ironische Reminiszenz an die einzige erinnernswerte Tat ihres ehemaligen Chefs Joachim Löw (Griff in die Hose, Griff an die Nase) oder als Forderung nach einer Maskenpflicht auf dem Spielfeld deuten mochte.
Im Grunde ist das aber egal: Ohne „One Love“-Binden war das ganze Spiel nichts wert. Das versteht ein großer Teil der Weltbevölkerung, schließlich sind die Deutschen schon seit bald hundert Jahren bekannt dafür, ihrer Gesinnung durch Armbinden Ausdruck zu verleihen. Das aktuell modische bunte Stoffstück steht jedoch nicht mehr für eine Partei – solche kennt der Deutsche ja alle hundert Jahre nicht mehr –, sondern für irgend etwas mit „Diversity“, was bedeutet, daß man ganz entschieden für sexuelle oder ethnische Merkmale eintritt, um auf diese Weise zu verdeutlichen, daß man sie als etwas besonderes erachtet und daß sie nichts besonderes sein, also nicht diskriminiert werden dürfen oder irgendwie so. Auch die Neigung der Deutschen zur Paradoxie ist altbekannt.
Aber wichtiger ist die Symbolik als solche, die dem Deutschen (und nicht nur ihm) enorm entgegenkommt, weil sie wohlfeil, billig, schmerzfrei und ohne Mühe zu haben ist und aber einen sofortigen, kostenlosen Distinktionsgewinn bietet. Für etwas zu sein, ohne etwas für das, wofür man ist, zu tun, ist vielleicht das Hauptmerkmal des modernen Menschen.
Daß man, wenn man für etwas ist, meistens auch gegen etwas ist, gerät dabei komplett aus dem Blick. Eine ganze Generation der US-Jugend schrieb sich „Make Love, not War!“ auf die Klamotten, weil mit dem symbolischen Strahlen der Vietnamkrieg und andere von der eigenen Regierung verübte Massenschlachtungen möglicherweise leichter zu ertragen waren und weil das weniger Anstrengung verlangte als zum Beispiel der Sturz selbiger Regierung. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung wiederum stellte sich vor zwei Jahren an Fenster und klatschte, um klarzumachen, daß man Mitgefühl mit den ausgebeuteten und erschöpften Opfern eines systematisch ruinierten Krankenpflegesystems empfand (oder zu empfinden sich verpflichtet fühlte), sich aber nicht dazu durchringen konnte, den zuständigen Minister aus seinem Amt zu entfernen oder ihn wenigstens durch kollektiven Aufruhr und Boykott dazu zu bewegen, von seinem schändlichen Tun abzulassen.
Statt dessen brüllte man sich bei jeder Gelegenheit den Remix einer traditionellen heilbringenden Grußformel entgegen: „Bleiben Sie gesund!“ Möglicherweise sollte auf diese Weise der unablässig beschworene, aber nie drohende und schon gar nicht eingetretene Zusammenbruch des zur Profitmelkkuh pervertierten Pflegesystems abgewendet werden, oder vielmehr: ausgeblendet, symbolisch eben. Zugleich symbolisierte man seine absolute Unterwürfigkeit, Befehlshörigkeit und den typisch deutschen blinden Gehorsam gegenüber einer Regierung, die alles in ihrer Macht stehende unternahm, um dafür zu sorgen, daß niemand gesund bleiben konnte, indem man sich Lappen vors Gesicht schnallte, was immerhin gewisse körperliche Wirkungen zeigte, allerdings nur schädliche. Die dadurch ausgelösten Schwindelanfälle und Atemwegserkrankungen waren ein symbolisches Opfer für die Volksgemeinschaft, aber nur ein Nebeneffekt. Die eigentliche Intention war rein symbolisch: „Führer, befehlt, wir folgen euch!“ Und zwar als stumme, brave, gesichtslose Masse, die nicht riechen will, was im Land und in der Welt zum Himmel stinkt. „Schnutenpulli auf und Flagge zeigen für Vielfalt!“ befahl im Juli 2020 eine sogenannte „Grünenpolitikerin“ in ihrer Funktion als Hamburger Zweitbürgermeisterin und unter Aufbietung einer Menschenverachtung, die sich früher nicht mal ein Franz Josef Strauß geleistet hätte. Unter „Vielfalt“ übrigens versteht der Symbolmensch heute das genaue Gegenteil: eine heilige Einfalt. Konkret: alles, was sich mit Einheitsbrei einschlämmen läßt; und das „Flaggezeigen“ … ja, auch das hat in Deutschland Tradition und hatte sie schon, als die Vorfahren von Klinsmann und Flick unter „Vielfalt“ das Trainingsprogramm der Hitlerjugend verstanden.
Inzwischen lassen sich zur symbolischen Maskierung nur noch die trotzigsten Daueruntertanen hinreißen, die auch 2009 noch mit zerfledderten Flaggen am Auto herumkutschierten und fünf Jahre zuvor immer noch rote Schleifen am Revers trugen, um irgendwas mit AIDS zu symbolisieren. Wer mit der Zeit geht, schmückt heute sein Zwitscherkonto mit einem blau-gelben Minirechteck und blökt im öffentlichen Schriftverkehr zum Ende jeder Mitteilung statt „Heil Hitler!“ oder „Bleiben Sie gesund!“ ein noch vehementeres „Stand with Ukraine!“ oder „Heil Ukraine“ in die Welt (letzteres in der einschlägigen Fremdsprache, weil das verpönte Four-Letter-Word dem Deutschen ein Vierteljahrhundert nach seinem vorletzten Angriffskrieg noch immer nicht leicht von den Lippen geht).
Damals übrigens, in den dreißiger Jahren, ertrank das Land fast noch tiefer in Symbolen als heute und mußte dann aber überrascht feststellen, daß Symbole bisweilen die unangenehme Neigung haben, sich als böse Wirklichkeit zu manifestieren und neben seinen Opfern auch dem Symbolträger selbst vehement um die Ohren zu fliegen. Daß Stalingrad wesentlich mehr war als ein Symbol, daran sollte man die heutigen „Heil!“-Rufer vielleicht rechtzeitig erinnern, bevor sie hinterher zum dritten Mal in hundertfünfzig Jahren bedröppelt behaupten, sie hätten das alles doch nur symbolisch gemeint.
Im Windschatten der Symbolherrschaft kann man sich auch einer historisch beispiellosen Bigotterie hingeben und zum Beispiel dem WM-Veranstalter FIFA hunderte Millionen Euro für Fernsehausstrahlungen überweisen, um die Sendungen dann eisern symbolisch zu boykottieren oder dazu aufzurufen oder – wie die Stadt Zürich – ihre öffentliche Aufführung als „Public Viewing“ gleich ganz zu verbieten. Oder sie mit symbolischer Ironie zu „entlarven“ oder Bildchen von guten Menschen zu posten, die vor schwarzen Fernsehern sitzen oder irgend einen ähnlichen Hokuspokus zu betreiben. Das fügt sich bestens in eine bizarre Welt, in der man ja auch glaubt, mit Waffen Leben retten, mit Kunstfleisch und Elektroautos das Klima schützen und Geld aus dem Nichts herauswummsen zu können.
Wollen wir wirklich in einer solchen Welt der falschen Symbole leben? Kann man das überhaupt in einer Welt, die derart mit falschen Symbolen zugerümpelt ist, daß man nichts mehr erkennt: leben? Gab es da nicht mal einen schlauen Spruch, irgendwas mit dem wirklichen Leben im Falschen? Der wäre doch ein prima Meme fürs Zwitscherkonto!
Oder wir schalten das alles aus, räumen es weg und versuchen das mal wirklich wirklich: leben.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint seit Dezember 1996 und ist in derzeit sechs Bänden als Buch erhältlich. Zu hören ist sie jeden ersten Freitag im Monat auf Radio München.
Danke für diese geistvollen und klarsichtigen Gedanken in dieser entmenschlichten Zeit.
Annette
Vor 2 1/2 Jahren hieß es: Masken auf und regelmäßig lüften.
Während die Masken geblieben sind, ist das Lüften aber in Vergessenheit geraten, hat sich gleichsam verdünnisiert.
Man stelle sich vor, die Menschen säßen jetzt nicht mit Maske im Bus, sondern man hätte bei den Bussen die Fenster ausgebaut, um für bessere Durchlüftung zu sorgen.
Unvorstellbar, oder? Hier zeigt sich, dass die Symbolkraft der Masken wohl eine gewisse Rolle spielt.