Belästigungen 11/2022: Vom Nazi zur NATO – „Zeitgeist“ on Tour

Über den „Zeitgeist“ wurde während meiner späten Jugend viel geplappert. Ein kluger und witziger Professor veranstaltete sogar mal ein Seminar zum Thema „Fußball und Zeitgeist“ und bat mich um ein Referat. Das war ein großer Spaß, weil man unter „Zeitgeist“ damals so gut wie alles von Janet Jackson bis Anti-Atom, von Cybersex bis Naturkost und von Derrida bis Ferrari, Toskana und Basilikum verstehen konnte und verstand. Nur was ein „Zeitgeist“ überhaupt ist oder war, das verstand niemand und fragte auch keiner.

Damals war es auch eine Zeitlang so eine Art Mode, mit Nazi-Anspielungen und Hitler-Symbolik (oder umgekehrt) zu provozieren. Möglicherweise eine Nachwehe der Punkjahre, in denen man mit so was die Spießer so richtig aus dem Häuschen und zugleich zur ideologischen Selbstentblößung treiben konnte: Ich erinnere mich, wie ich mit vierzehn oder fünfzehn mit meiner verwahrlosten Clique vor unserer Giesinger Kirche herumlungerte, ordnungsgemäß in zerfetzte Jeans und Plastik-T-Shirts, Sicherheitsnadelgehänge und schwarzes Leder mit einer Menge der beliebten „Meinungsknöpfe“ gehüllt – mit Aufschriften wie „Sex Pistols“, „Anarchy & Peace“, „Fuck off“ und „White Riot“. Da näherte sich eine aufgebrachte ältere Dame, hob ihren Gehstock und krähte, „so was“ wie uns hätte „man früher vergast“. Wir registrierten ihre offensichtliche Körperbehinderung und entgegneten: „So was wie Sie auch!“

In „Zeitgeist“-Zeiten waren die Spießer andere: Mitglieder der sogenannten „Grünen“ Partei, die sich von Müsli und biologisch-dynamischen Weizenkeimen ernährten, Sandalen und Zauselbärte beziehungsweise gehäkelte Mützchen trugen (oder häkelten), Diskussionen gerne mit Argumenten wie „Ja, nö, du, weißte, mach mal nicht so aggressiv, du“ in späte Nachtstunden trieben, autarke Landkommunen gründen wollten, obwohl sie im täglichen Leben schon von Abwasch und Körperhygiene völlig überfordert waren. Die waren sogar noch leichter zu provozieren als die alten Nazis, weil sie nichts so fürchteten wie Nazis (und ja auch noch nicht ahnen konnten, daß sie sich selber mal als Nazis entpuppen würden).

Ich erinnere mich an ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Adolf Hitler European Tour 1939-45“, mit dem ein britischer Tourist (Typ langhaariger Metaller) am Chinesischen Turm saß und das wegen seiner offensichtlich absolut gewollten politischen Unkorrektheit allgemein für „grenzwertig cool“ befunden wurde. Ich erinnere mich aber auch an alerte, geschniegelte und straff frisierte Durchstarter aus der (gefühlten) FDP-Jugend in Gucci-Anzügen, die ständig irgendwas von ihren „Brokern“ erzählten, ausschauten wie die moderne Wiedergeburt der mittleren NSDAP-Elite, mit 21 Millionär waren und mit 23 pleite gingen, um sich dann dem Buddhismus (Haidhausener Spielart) zuzuwenden und auf „arbeitsscheues Gesocks“ zu schimpfen. Ich erinnere mich an kahlrasierte BWL-BMW-Boliden mit aufgeblähten Muskelkugeln und SA-Fressen, die in „alternativen“ Kellerclubs als Türsteher fungierten. Es war ein Seiltanz. Die einen wollten provozieren, die anderen meinten es ernst mit „Hitler on Tour“, und wieder andere bekamen vielleicht gar nicht mit, wie ernst sie es meinten und was sie da verkörperten.

Das alles nur zur Einstimmung. Der Seiltanz endete nämlich, indem sich der „Zeitgeist“ wendete und sozusagen die Spreu vom Weizen trennte: Ab 1995 war in 34 deutschen Städten die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ zu sehen und sorgte für einigen Aufruhr, aber auch dafür, daß Schluß war mit ironischem Geplänkel und halbseidenen Provokationen. Plötzlich gab es richtige Nazis, die glaubten, die Ehre ihrer kriminellen Großväter schützen zu müssen, die fünfzig Jahre zuvor nach Osten aufgebrochen waren, um Juden, Russen und andere „Untermenschen“ auszurotten, und die man nach ihrem glücklicherweise verlorenen Krieg nie wirklich strafrechtlich belangt hatte, weil sie ja bloß einen ganz normalen Krieg geführt und sich dabei anständig aufgeführt hätten. Jetzt sah man das grauenhafte Elend, das schreiende Ausmaß der Menschheitsverbrechen bildlich vor sich und wollte es nicht wahrhaben.

Dagegen formierte sich der Unmut der unbelehrbaren Söhne (und einiger Töchter). Manche fürchteten um das Ansehen der Wehrmachtsnachfolgerin Bundeswehr, die man schließlich brauchte, um den Krieg gegen den Russen irgendwann zu Ende zu bringen. Andere zogen empört durch die von der Ausstellung betroffenen Städte, grölten „Hier marschiert der nationale Widerstand!“ und wollten diesen Krieg gegen das jüngst vom Kommunismus befreite „Untermenschentum“ am liebsten sofort wiederaufnehmen und das linke Gesindel im eigenen Land gleich mit ausmerzen. Zur Unterstützung dieser erwachten Deutschen ließ Peter Gauweiler in München 50.000 Flugblätter verteilen und mußte sich dafür Goebbels-Vergleiche gefallen lassen, während Angehörige des alten und neuen Geldadels die Tageszeitungen mit großformatigen Anzeigen tapezierten, um die „Ehre“ des „ehrlichen, anständigen und treuen“ deutschen Soldaten hochzuhalten.

Am 24. Februar 1997 demonstrierte ein „Anti-Diffamierungs-Komitee“ vor dem Münchner Rathaus gegen die Eröffnung der Ausstellung. Am 1. März stand ich selbst am Marienplatz und hörte das Gebrüll aus dem Tal, von wo 5.000 Nazis anmarschierten, um zur Feldherrnhalle zu gelangen und – vermutlich – ihrer „alten Kameraden“ vom Hitler-Putsch am 9. November 1923 zu gedenken. Der Zug scheiterte an der Masse der Gegendemonstranten, obwohl die Polizei mit „ehrlicher, anständiger und treuer“ Knüppelarbeit versuchte, ihm den Weg zur Traditionskultstätte zu ba(h)nnen.

Es war halt irgendwie doch ein Seiltanz, bei dem man sich jedoch auf einen gewissen Rückhalt bei gewählten Volksvertretern und insbesondere einer tatsächlich anständigen und ehrlichen Linken verlassen konnte, die trotz medialem Bombardement von rechten Wortführern auch in der „normalen“ Bevölkerung über fast alle Parteigrenzen hinweg die Mehrheit stellte und ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg absolut nichts mehr zu tun haben wollte mit Nazis, Nationalismus, Militarismus, Opfermythos, Todeskult und dem widerlichen „Kriegshandwerk“ insgesamt. Heute würde man vielleicht sagen: Es gab einen „Konsens“. Aber den gab es selbstverständlich nicht, es war nur ein „Zeitgeist“.

Zwei Jahre danach überfiel die NATO unter wesentlicher deutscher Beteiligung Jugoslawien, bombardierte zweieinhalb Monate lang Belgrad in Schutt und Asche. Dann zog der „erwachte“ Westen in die nächsten Kriege, überrollte Afghanistan, Libyen, den Irak, Syrien und andere Länder mit „Shock & Awe“-Vernichtungswellen, hinterließ Millionen Tote und komplett kaputte Länder. Daß so etwas nicht ohne Auswirkung auf die Mentalität der Kriegsherren und ihrer mittlerweile nur noch rudimentär „demokratisch“ beherrschten Bevölkerungen bleiben kann, hätte man sich eigentlich denken können. Aber so richtig zeigen tut sich der „Zeitgeist“ eben meist in symbolischen Akten und Veranstaltungen.

Als am 16. Februar die Eskalation des achtjährigen Krieges um das Donbas begann und Rußland acht Tage darauf – exakt ein Vierteljahrhundert nach dem erwähnten Nazi-Aufmarsch am Marienplatz – seine sogenannte „militärische Spezialoperation“ einleitete, war die Drehung des „Zeitgeists“ so weit vollendet, daß es Zeit für eine solche symbolische Aktion wurde. Die organisiert passenderweise eine Institution, die man als Zentralkomitee der westlichen Bemühungen um eine Vollendung des Kriegs gegen den europäischen und ferneren Osten bezeichnen könnte: die sogenannte „Münchner Sicherheitskonferenz“, über viele Jahre hinweg so etwas wie ein rostiger Nagel im Fleisch einer an sich friedlichen Stadt und nun als Speerspitze von Bellizismus, Militarismus und raketenbewehrter Geopolitik total „trendig“ und „angesagt“.

Logischerweise geht es nun nicht mehr um Aufklärung über vom Militär getragene, begangene und vertuschte Verbrechen, um Massenmord und seine Aufarbeitung, sondern um das genaue Gegenteil: um die Rechtfertigung vom Militär getragener, begangener und vertuschter Verbrechen, weil sich – so die neue, „zeitgeistige“ Lesart – nur auf diese Weise der Friede gewinnen läßt: durch den Sieg. Durch die Niederringung, Zerschlagung und Vernichtung der russischen „Barbaren“, wie sie nicht nur der aktuelle Träger des Buchhandels-Friedenspreises nennt und ihnen wünscht: „Brennt in der Hölle, ihr Schweine!“ Wer hierin Parallelen zur „Haltung“ und Ausrichtung der „anständigen Deutschen“ und ihrer Soldaten von 1933 bis 1945 erkennen möchte, der hüte sich vor dem neuen Paragraphen 130 des deutschen Strafgesetzbuchs: Russenhaß nämlich ist neuerdings Staatsraison und in sozialen Medien ausdrücklich empfohlen, das Gegenteil möglicherweise mit bis zu drei Jahren Gefängnis strafbar, wenn es geeignet ist, den Kampfwillen der Volksgemeinschaft zu beeinträchtigen. Nein, Verzeihung: „den öffentlichen Frieden“ zu stören.

Die Propagandaveranstaltung, mit der die Deutschen auf den heiligen Krieg eingeschworen werden sollen, trägt übrigens ungelogen den Titel „Zeitenwende on Tour“ und gastiert ein Jahr lang in deutschen (Originalzitat) „Townhalls“ (eröffnet von der deutschen Kriegsministerin, gesponsert von der Bundesregierung aus Steuergeldern und von der notorischen „Deutschen Atlantischen Gesellschaft“, garniert mit prominenten Fachleuten wie Annegret Kramp-Karrenbauer und Andrij Melnyk, aber immerhin noch nicht an Orten wie Stalingrad – das gibt es ja sowieso nicht mehr und hat es, wie Alesia bei Asterix, wahrscheinlich nie gegeben).

Da haben wir ihn, den Zeitgeist. Ich bin gespannt, wer diesmal demonstriert und sich gegen wen zur Wehr setzt, im Tal, auf dem Marienplatz, an der Feldherrnhalle und anderswo.

Ob es hinterher noch Kirchen geben wird, vor denen verwahrloste Jung-Punks herumlungern können, um ewiggestrige Fanatiker zu provozieren und bloßzustellen, bleibt allerdings abzuwarten.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint seit Dezember 1996 und ist in derzeit sechs Bänden als Buch erhältlich. Zu hören ist sie jeden ersten Freitag im Monat auf Radio München.

2 Antworten auf „Belästigungen 11/2022: Vom Nazi zur NATO – „Zeitgeist“ on Tour“

  1. Die „echten“ Nazi’s seinerzeit, also die 5.000 am Marienplatz, die gab es nicht nur dort, sondern ganz München war damit gespickt wie ein trockener Rebhuhnrücken mit Speckstreifen: Tief reingestochen ins linke und anarchistische Milieu, zweimal den Spieß umgedreht und für unsere direkten Nachkommen lebensgefährlich, also nicht nur Zeitgeist, sondern krass gewalttätig und jede „Glatze“ mit einer Zündschnur ausgestattet, die bereits an ihrem Ende angelangt war: Nachdem ich älter bin als Du, waren wir als Hüter unserer Nachkommen seinerzeit am Marienplatz, denn die standen in allererster Linie – Gesicht an Gesicht – mit den „Glatzen“, nur ein zitternder Polizeikordon als Absperrkette dazwischen. Die „Glatzen“: muskelbepackt, rotgesichtig, stiernackig, Nazi-Klischee pur, standen unseren waldorfgepäppelten, wehrunfähigen Kindern nicht nur gegenüber, sondern haben auch fatal an die Stelle aus „Garp-und-wie-er-die-Welt-sah“ erinnert:

    Dort schreitet eine Katze ungerührt an einem Kettenhund vorbei, weil sie weiß, wie lang die Kette ist und wenn dann der Kettenhund speichelschleudernd wütend aufspringt um sie umzubringen, bleibt er würgend in seiner Kette hängen. Bis eines Tages jemand den Lastwagen verschoben hat, an dem er angekettet war….

    Genau das ist in der Zwischenzeit passiert.

    Aber noch immer ist richtig, was sie damals den „Glatzen“ entgegengerufen haben (müsstest Du dabei gewesen sein?): „ihr seid so hässlich!“ und „ihr werdet’s nicht vermuten, wir sind die Guten!“: Wer auf welcher Seite gelandet ist, das ist das ganz große Rätsel oder: Was waren das doch für wunderbare Zeiten als man schon am Äusseren erkennen konnte, wer der Gute und wer der Böse ist: „Antifa“, da lachen ja die Hühner. Josi

  2. https://www.youtube.com/watch?v=Xnq6sTn6rCk
    Protest gegen NATO-Manöver „Steadfast Noon“ Demonstration gegen das NATO-Manöver „Steadfast Noon“
    Nörvenich den 22-10-2022

    Letztes Jahr waren noch mind. doppelt so viele dabei und das obwohl Köln Bonn Aachen in dern Nähe sind. Ich erinnere mich an 100 Tsd. in Bonn 83 als Willy Brand redete. Dazu kommt noch ein Informationskrieg im digitalen Raum. Sichtbar z.B. durch die sog. hashtag NAFOs …the grayzone hat zwei ausführliche Artikel dazu geschrieben. Wieviele ausstehende Strafbefehle gegen Rechtsextreme gibt es momentan? Vor einigen Jahren waren es über 100.

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