(Aus dem tiefen Archiv:) Wenn der Hund beißt, hilft Tutsi-Tutsi auch nichts mehr (Belästigungen 21/2012)

Wer Geld braucht, kann sich, statt einer redlichen, aber öden und zeitraubenden Tätigkeit nachzugehen, zur Behebung des Mangels genausogut eine Einnahmequelle schaffen. Die Münchner Polizei bedient sich dazu gerne des Robin-Hood-Prinzips der Wegelagerei, wie sich anhand der Ampelanlage an der Kreuzung Belgrad-/Clemensstraße sehr typisch erweist: Die wurde vor einiger Zeit so umgeschaltet, daß Fußgänger und Radfahrer nun selbst mitten in der annähernd verkehrsfreien Nacht gefühlt stundenlang herumstehen; wenn ihnen dann endlich grünes Licht leuchtet und sie zur Überquerung schreiten, ist selbiges auch schon wieder rot und somit mindestens die Hälfte ihres Weges illegal zurückgelegt.

Das führt irgendwann zur einer Art renitenter Wurstigkeit: Da die Ampel ganz offensichtlich nur der demütigenden Verarschung dient, beachtet sie einfach niemand mehr. Seit Monaten habe ich dort keinen Menschen gesehen, der bei Rot länger als zwei Sekunden innegehalten hätte. Wozu auch? Entweder es kommt gar kein Auto, oder es kommen so viele, daß man sich gefahrlos zwischen den bis ins tiefste Milbertshofen aufgestauten Blecheimern hindurchschlängeln kann, ohne diese zu behindern.

Wenn sich solcherart alle sicher fühlen und die Dinge im Lot sind, ist der Augenblick ideal für die Wegelagerermethode: Dazu stellt man einfach zwei unauffällig freizeituniformierte Polizisten in Ampelnähe, die zufällig herausgegriffenen Radfahrern und notfalls auch Fußgängern eine demütigende „Belehrung“ über die Gefahren regelwidrigen Verhaltens erteilen (schließlich dienen die Ampeln ja nur ihrem eigenen Schutz vor der tödlichen, durch nichts einzudämmenden Naturgewalt der Autofahrerei!) und ihnen dafür unverschämte Tributzahlungen abpressen.

Nicht viel anders gehen Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel vor: Aus Lust und Laune fährt kaum jemand schwarz; wenn jedoch sämtliche Fahrkartenautomaten defekt sind (bei den höchstmodernen Instant-Schrott-Geräten eher Regel als Ausnahme), läßt man sich notgedrungen dazu hinreißen, man muß ja dort, wo man hin muß, hin. Und schon schlägt die Stunde des Kontrolleurs, zu dessen Stellenbeschreibung es ebenfalls gehört, dem notgedrungenen Delinquenten nicht nur unverdientes Geld abzuknöpfen, sondern ihn dazu durch Kraftmeierei, Beleidigung und obrigkeitliche Herrenmenscherei nach Kräften seiner Würde zu berauben.

In beiden (und allen weiteren) Fällen (vom gesamtstaatlichen Demütigungs- und Verelendungssystem der „Arbeitsagenturen“ wollen wir gar nicht reden) ist das Ergebnis das, was „neoliberale“ Fanatiker seit Jahrzehnten als Grundlage ihrer Wachstumsideologie predigen: Unsicherheit, ein ständiges Gefühl von Bedrohung, das nur eine Gewißheit zuläßt: Wer sich normal verhält, geht ein Risiko ein.

Nur so, heißt es, geht etwas voran. Nur so können die Blasen und Krebsgeschwüre des toten Kapitals weiter wuchern und „Arbeitsplätze“ „schaffen“, die logischerweise ebenfalls unsicher bis prekär sein müssen – sonst strengt sich ja keiner mehr an, sonst flacken alle in der leistungsfreien Hängematte herum.

Die Leute, die uns diesen Schwachsinn einbleuen, ihn vielleicht sogar glauben, haben eines gemeinsam: Sie leben in weitgehender bis absoluter Sicherheit, sind wohlhabend bis milliardenschwer, von Geburt an in familiären und sozialen Netzen verstrickt, wo sich nach jedem Rücktritt und jeder Verurteilung sofort wieder ein Türchen öffnet und ein neues lukratives Amt, ein neuer angst- und anstrengungsfreier Führungsposten daherkommt. Sie müssen sich niemals sorgen, wer die Miete zahlt, und was ein normales Leben kostet, können sie schon deshalb nicht ahnen, weil sie sich ihre Ernährung auf Galas, Einladungen, Symposien und Meetings von den jeweiligen prekären Belegschaften bezahlen und servieren lassen.

Nein, diejenigen, die das angeblich leistungsfördernde Zittern, Heulen und Zähneklappern kriegen und kriegen sollen, sind die anderen, für die angeblich nichts mehr da ist, weil zumal in Dauerkrisenzeiten eben „nichts mehr zu verteilen“ bleibt. Die sollen merken, daß sie nicht als Menschen auf die Welt gekommen sind, die per naturam ein Recht haben, sich in der ihnen zukommenden Zeit auf Erden des Lebens zu erfreuen, sondern als unverschämte Parasiten, die nicht das geringste Anrecht auf den Zinseszins des Wohlstands haben, den die Urgroßeltern der „Leistungs“-Erben einst ihren Urgroßeltern in Form von Arbeitskraft und Lebenszeit geraubt haben.

Man sollte nicht unbedingt US-amerikanische Präsidenten zitieren, wenn es um solche Themen geht, aber ein Zitat von Franklin Delano Roosevelt drängt sich auf: „Das einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst“, sagte der 1933, als die USA in einem ähnlichen Zustand waren wie ein großer Teil Europas heute, und er sagte es nicht, weil er Kommunist gewesen wäre: Wenn neun Zehntel der Bevölkerung vor Angst gelähmt in den Hütten sitzen, an Schuhsohlen knabbern und für ein Almosen zur erniedrigendsten Drecksarbeit bereit sind (immerhin, die direkte Sklaverei, die wir heute „Praktikum“ nennen, war damals in den USA verboten), dann führt das zwangsläufig zur kollektiven Depression, auch wirtschaftlich, und dann erfaßt das Zittern, Heulen und Zähneklappern irgendwann auch die Paläste.

Das sollten die Propagandisten der „kreativen Zerstörung“, der Einschüchterung, Maßregelung, Demütigung, Flexibilisierung, des „Förderns und Forderns“, des Angstmachens, der zwangsweisen Heimatlosigkeit und der zwanghaften Umverteilung von unten nach oben gelegentlich bedenken: Wenn man einen Hund lange genug erniedrigt und quält, beißt er irgendwann wild um sich, ohne Rücksicht auf irgendwas, auch nicht sich selbst. Beim Menschen ist es ähnlich, und wer dann gebissen wird – ob Schwabinger Polizist, Trambahnkontrolleur oder Millionenwanst –, der kann sich alles Gequengel über Gerechtigkeit, Angemessenheit und eigene Schuld ebenso sparen wie jeden Versuch einer Besänftigung durch Tutsi-tutsi, Streicheleinheiten und ein paar Lohnprozente: Dann geht es um alles.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint seit Dezember 1996 und ist in derzeit sechs Bänden als Buch erhältlich. Zu hören ist sie jeden ersten Freitag im Monat auf Radio München. Diese Folge erschien zuerst am 24. Oktober 2012. 

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