Im Regal: Walter Serner „Letzte Lockerung“

(Anmerkung: Heute vor achtzig Jahren, am 10. August 1942, wurde Walter Serner in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und wahrscheinlich am 23. August von Deutschen ermordet. Der folgende Text wurde im Oktober 2007 geschrieben und erschien in KONKRET.)

Kaum je wurde so vehement nach Leitbildern, Lichtgestalten und Führungsführern gekräht wie ausgerechnet in Zeiten des tobenden Totalitärwettbewerbs, wo jeder „nur nach vorne schauen“ und sein „Ding“ machen, am besten gleich „durchziehen“ soll und das Absitzen von zwei Semestern BWL-Ideologiedrill als Bildung gilt.

Aber gut, geben wir dem desorientierten Nachwuchs ein Vorbild; eines, dessen Genie von so vielen Widersprüchlichkeiten umkränzt und durchschossen ist, daß der Kopf schon bei Betrachtung der Begleitumstände in Bewegung gerät. Walter Serner alias Wladimir Senakowski alias (sozusagen bürgerlich) Walter Eduard Seligmann, 1889 in Karlsbad geboren, nach dem Abitur vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert, Jurist und Zeitschriftenredakteur, verehrte Karl Kraus, schrieb für „Die Aktion“ und andere, diente sich den Dadaisten an, die es ihm dankten, indem sie ihn einen „größenwahnsinnigen Außenseiter“ (Tristan Tzara) hießen und von der Bühne scheuchten, als er 1919 erste Teile der „Letzten Lockerung“ vortrug.

Er schrieb zynisch-knapp in Sätze wie Blitze destillierte, todchice Kriminalgeschichten, die manchen an Pitigrilli und Chesterton erinnern mögen, aber auch noch dadaistischen und jedenfalls erotischen Pfeffer in sich haben, was für manchen Skandal und juristisch begrenzte Verbreitung sorgte. Serner war glühender Pazifist, kannte aber kein Halten, wenn es darum ging, verbal auf die Übel einzudreschen, die ihn am friedlichen Dasein hinderten, und am widerwärtigsten waren ihm Opportunismus und Mittuerei in jeder Form, insbesondere der deutsche Nationalwahn, der sich im barschen Geschnösel der „Konservativen Revolution“ ebenso austobte wie in den Aufmärschen der Frühnazis und dem Stinksumpf bürgerlicher Anstandsblödheit.

Seine unbeugsame Haltung gegenüber der Ordnungs- und Arbeitswelt („Peter pflegte alltäglich gegen drei Uhr nachmittags sich darüber zu ärgern, daß er erwacht war“) faßte er in seinem Haupt- und Meisterwerk „Letzte Lockerung“ zusammen. Dieses famose, grandiose Büchlein ist auch chronologisch eine Art Klammer seines Denkens und Seins: Mit dem Zusatz „manifest dada“ erschien es 1920 als sein Debüt, 1927 beendete es in überarbeiteter und erweiterter Form (in der die „Revolteure“ nun nicht mehr Dada, sondern „Rastas“ sind) Serners Schriftstellerkarriere.

Vordergründig eine Fibel im Sinne des Untertitels, ist diese Sammlung anfangs wüst randalierender Tiraden, später hochpoetischer, hinter-, doppel- bis quadrupelsinniger Aphorismen bei genauerer Betrachtung sowohl die klarste Abbildung des (Un)geistes ihrer Zeit als auch „der Pfiff aufs Ganze“, eine Anleitung zum einzig wahren und guten Leben: dem komplett sinnlosen, das an nichts und niemanden glaubt, nirgends mitmacht, keine Ziele kennt. „Nicht einmal daran, daß man sich an nichts halten kann, kann man sich halten, geschätzte Feinde …“

Selbst Theodor Lessing, der als einziger zeitgenössischer Kritiker Positives an Serner fand („unüberbietbare kalte und kluge Frechheit“), mochte die „Letzte Lockerung“ nicht loben; die Nazis überzogen den Einsamen mit einer wüsten Hetzjagd und ermordeten ihn 1942 im KZ. Daß wir ihn überhaupt kennen dürfen, verdanken wir einem tapferen Kleinverleger, der ihn 1977 wiederentdecken ließ; daß dieses Buch in jedes von denkenden Menschen bewohnte Haus gehört, sei als abschließendes Urteil gültig.

3 Antworten auf „Im Regal: Walter Serner „Letzte Lockerung““

  1. Vor gut 30 jahren ist er mir in die finger geraten, wurde aber dann „vergessen“, und doch ist manches hängengeblieben.

    Grandios.

    Vielen Dank *****

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