(periphere Notate): Panzerhaubitzefrei! oder: Der Sommer der kulturellen Aneignung

Der Sommer 1976 ist mir als einer der heißesten meines Lebens in Erinnerung geblieben. Selbstverständlich ist das Gedächtnis subjektiv (eine Tautologie: Aus was außer dem Gedächtnis bestünde denn das Subjekt?). Aber es gibt zumindest einige sozusagen empirische Merkmale, an denen sich das festmachen läßt, etwa die Bilder vollkommen vertrockneter Wiesen, braungelber und entlaubter Bäume in ganz Giesing nach wochenlanger Trockenheit, die Ahnung eines Gewitters irgendwann, woraufhin wir Kinder (und auch einige Erwachsene) jubelnd und fast nackt aus den Häusern liefen, um die Regentropfen zu begrüßen, von denen dann gerade einmal so viele herabplätscherten, daß die Pflastersteine der Bürgersteige nach fünf Minuten wieder trocken waren, aber immerhin nicht mehr so glühend heiß.

Vielleicht sitze ich da einem Denk- oder Wahrnehmungsfehler auf, der heute annähernd universell verbreitet ist: Hitze mit Trockenheit zu verwechseln. Zweitere hätte ja Ursachen, die man benennen und als „menschliche Gemeinschaft“ beseitigen könnte: die exzessive Erstickung, Verdichtung, Betonierung, Asphaltierung, allgemeine Versiegelung der wuchernden Städte etwa, die hier (München) SPD und „Grüne“ unter Befehl der Spekulantenmafia mit einer so fanatischen Brutalität voranpeitschen, dass einem die Worte fehlen.

Dem Einhalt zu gebieten wäre aber damals, 1976, noch mehr als fortschrittsfeindliche Naturträumerei verworfen worden als heute: Für solche Probleme würden sich auf die Dauer immer technische Lösungen finden lassen, glaubte man innig und glaubt es in Kreisen der „grünen“ Technofaschisten heute noch inniger, da eine Opposition fehlt. Die bildeten damals ironischerweise ausgerechnet die bärtigen Müsli-Hippies und Landkommunenträumer, aus denen später die Partei der „Grünen“ entstand, die dann jedoch von faschistoid-technokratischen Ex-Maoisten und (später) russophoben Möchtegern-Kriegsstrategen übernommen wurde.

Das interessiert mich heute nicht, ich möchte erinnernd träumen. Damals hatten wir Schüler eines wegen seiner Anfälligkeit für Randale, Subversion und linksradikale Umtriebe berüchtigten Giesinger Gymnasiums jeden Tag ab der großen Pause hitzefrei. Es gab, wenn ich mich recht erinnere, eine Vorgabe des Kultusministeriums, dass ab einer gewissen Temperatur ein Unterricht nicht mehr zumutbar sei. Gemessen wurde diese Temperatur anders als heute nicht von dubiosen Stationen, sondern vom Hausthermometer der Schule, das am schattigsten Ort des ganzen Geländes angebracht war. Auf dessen Skala fiel täglich der gestrenge Blick des allseits unbeliebten Direx, der dann per Sprechanlage in sämtliche Klassenzimmer künden ließ: „Achtung, eine Durchsage! Heute ab elf Uhr fünfundzwanzig hitzefrei!“

Die letzten zwei bis drei Wörter gingen wochenlang im allgemeinen Jubel unter. Irgendwann hatte man sich so daran gewöhnt, daß man sich den Jubel sparte. Stundenpläne wurden umgestellt, weil manche Klassen in einigen Fächern sonst den Anschluß zu verlieren drohten. Als es dann doch einmal heftig gewitterte und am nächsten Morgen eine frische, kühle Dampfluft durch die Straßen waberte, wurden Wetten abgeschlossen – ein paar Verschwörungstheoretiker behaupteten, das Hitzefrei werde Tage im voraus beschlossen, um Lehrern eine zielgerichtete Freizeitplanung zu ermöglichen. Sie behielten recht: Es gab auch an diesem Tag hitzefrei.

Es kamen die Sommerferien; wir verabschiedeten uns von unserer Deutschlehrerin, an die wir uns kaum noch erinnern konnten. Und fuhren nach Niederbayern auf den Bauernhof von lieben Verwandten, wo wir den Mühlbach tagelang nur kurz verließen, um den bemitleidenswerten Erwachsenen zuzuschauen, wie sie in sengender Staubhitze auf den Feldern arbeiteten.

Am 13. August wunderten wir uns, weil das Bachwasser mittags plötzlich schlammig braun wurde. Aber da denkt man sich als Kind ja nichts, wir tauchten trotzdem darin herum, schlugen Bremsen platt und rieben uns die roten Augen. Es war der 15. Jahrestag des Mauerbaus in Berlin, was uns nicht interessierte, im Gegensatz zu dem plötzlichen Donnerschlag am späten Nachmittag, der uns lauter vorkam als die Tiefflieger der Bundeswehr oder NATO, die nachmittags gerne ohrenbetäubend über die Einöde donnerten, um ihren Krieg gegen die Sowjetunion zu proben und die Bevölkerung zu terrorisieren.

Da fing es zu regnen an. Und hörte nicht mehr auf. Alle Bäche traten über die Ufer, Felder und Wiesen liefen voll. Wir Kinder rannten in Gummistiefeln und Regenmänteln hinaus, staunten über Horden von Mäusen und Ratten, die verzweifelt schwimmen lernten, und erfuhren selbst von der tückischen Kraft von Strudeln, als ein Cousin mit der Schuhspitze einen solchen berührte, schlagartig verschwand, erst meterweit auf der anderen Seite des Weges in der dunkelbraun schäumenden Strömung wieder zum Vorschein kam und aus den Fluten gerettet werden mußte. Als es richtig finster geworden war, bot sich dem Blick aus dem Fenster ein beeindruckendes Bild: ein einziges umbrafarbenes, vom Mond bleich beschienenes Meer ohne Ufer bis zum Horizont.

Zum Glück war das Gelände trotz Flurbereinigung so planvoll von Bächen und Gräben durchzogen, daß das Wasser nur bis kurz unter die Fenstersimse stieg. Am nächsten Morgen war es weg; zurück blieb eine streng frisierte Landschaft, selbst im Wald hatten sich sämtliche Pflanzen in die vorgegebene Richtung geneigt und vom Schlamm salben lassen. Mein Onkel baute damals gerade ein neues Haus, das im Gegensatz zur ein Vierteljahrtausend alten Mühle einen kleinen Keller hatte. Der wurde nun mit Kübeln von Hektolitern Wasser und Schlamm befreit. Mein Großonkel, der nichts von Kellern hielt, stand ironisch grinsend daneben, sagte aber nichts, weil man ihm sonst sein Lieblingsspielzeug weggenommen hätte – die Kreissäge, mit der er stundenlang übriges Bauholz zu Brennholz zusammenschnitt.

An diesem 13. August endete (in der Erinnerung) der Sommer. Wir schafften es noch ein paar mal zum Baden, wurden dabei aber zuverlässig von Wolkenbrüchen überrascht, auch mal von knackend prasselnden Hagelkörnern; es blieb kühl, feucht, und der Herbst blieb mir als einer der dunkelsten meines Lebens im Gedächtnis.

Wer jetzt eine Bemerkung zum Klimawandel erwartet, wird enttäuscht: Ich verstehe davon nicht viel und wollte auch nichts dazu sagen. Vielleicht behalten wir wiederum die mörderische Hitzewelle des Jahres 2022 im Gedächtnis: zwei Tage mit mehr als 30 Grad und eine der tatsächlich längsten Dürren, an die ich mich erinnern kann. Gegen deren Wiederholung man – wie gesagt – vielleicht etwas tun (oder vielmehr: unterlassen) könnte. Wenn man wollte.

Bei der Recherche außerhalb meiner Kindertagebücher ist mir eine Zeitungsmeldung vom 13. August 1976 aufgefallen, von der ich nicht weiß, weshalb ich sie so faszinierend finde. Die „Zeit“ schrieb damals: „Big Business übertrifft sich selbst. In Teheran wurde am vergangenen Wochenende das Protokoll für ein amerikanisch-iranisches Handels- und Wirtschaftsprogramm unterzeichnet, das ein Volumen von 40 Milliarden Dollar (etwa 104 Milliarden Mark) hat und für die amerikanische Industrie ein Supergeschäft verspricht: Der Iran wird danach von den USA acht bis zehn Atomkraftwerke im Werte von etwa zehn Milliarden Dollar (rund 26 Milliarden Mark) und zudem bis 1980 jährlich Waffen im Wert von zwei bis drei Milliarden Dollar kaufen. Bezahlen will der ehrgeizige Schah mit Öl.“

Das hat nichts mit der Gegenwart zu tun. In dieser möchte, wie wir wissen, das irre Regime der Ukraine so viel Tötungszeug aus dem Ausland „kaufen“, wie nur möglich. Unter anderem hundert „Panzerhaubitzen 2000“ (ich möchte nicht erklärt bekommen, was das genau ist) aus Deutschland, um (höchstwahrscheinlich) die laufenden Mordattacken gegen die Zivilbevölkerung in Donezk und anderswo fortsetzen zu können. Diesen „Kauf“ (bezahlt von deutschem Steuergeld) hat die Bundesregierung „genehmigt“ (was sie nicht kann, weil es gegen das Grundgesetz verstößt, aber hey: Wir schreiben 2022!).

Interessant daran ist eigentlich nur, dass es die „2000“ genannten Dinger, die laut „Wikipedia“-Blog (Obacht! Wird ständig verändert) von 1998 bis 2003 gebaut wurden, noch gar nicht gibt. Vielmehr „werde nun umgehend mit der Produktion der Waffensysteme begonnen“, so ein „Unternehmenssprecher“ des deutschen Tötungsmaschinenkonzerns „Krauss-Maffei Wegmann“ (dessen beide Teilfirmen sich im Nazireich prominent für die Wehrmacht engagierten und dazu Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und politische Häftlinge ausbeuteten und durch die Ausbeutung ermordeten).

Ukrainische Soldaten wurden bereits – in Deutschland – darauf gedrillt, mit dem Scheißzeug umzugehen, um die eigene „abtrünnige“ Bevölkerung zu morden. Allerdings, so erfahren wir, kann es noch zehn Jahre dauern, bis die Teufelsmaschinen tatsächlich geliefert werden.

Ob wir uns dann noch an die Hitzewelle 2022 und den Staat Ukraine erinnern?

Der Sommer 1976 war übrigens in Großbritannien der „Summer of Punk“, auch weil sich (stark vereinfacht) während der Notting Hill Riots weiße Jugendliche mit Rastas und Pakis solidarisierten und Bands wie The Clash gründeten. Das täten heutige „Linke“ nicht mehr, dürften sie gar nicht, weil es „kulturelle Aneignung“ wäre. Die gab es damals auch, von fast jedem zu fast jedem. Nur die erbärmlichen „National Front“-Faschisten wollten sich (kulturell) nichts aneignen und von nichts was wissen. Ihre Musik hörte sich dementsprechend an, und die wiederum eigneten sich dann deutsche Kapellen wie Böhse Onkelz, Störkraft und Tote Hosen an. Was den Vorteil hatte, dass sie ideologisch eindeutig zu identifizieren waren. Und etwas anderes als den tumbsten Wurstsalatdumpfrock hätten sie sowieso nie hingekriegt.

„White Riot“ (The Clash) hatte übrigens am Rande auch damit zu tun, dass es schon damals eine nicht leicht erklärbare Scheu der weißen Unterschicht gab, sich mit anderen Gruppen der Unterschicht als eine (ausgebeutete) Klasse zu sehen und zu solidarisieren. Lieber fühlte man sich „weiß“ und damit „anders“ als „die anderen“, etablierte damit eine noch „niedrigere“ Unterschicht, von der man sich durch praktizierten Rassismus („Pakibashing“ etc.) nach „oben“ absetzen zu können glaubte, spielte dadurch der Oberschicht in die Karten, stabilisierte das Klassensystem und wählte am Ende noch Thatcher und/oder Blair. Dem anderen Ende dieses Spektrums struktureller Blödheit wiederum galten The Clash als rassistisch, weil sie „Police & Thieves“ von Junior Murvin nachspielten.

Wem die Ironie dieser (selbstverständlich rücksichtslos vereinfacht dargestellten) Geschichte zu milde erscheint, dem sei empfohlen, sich ein paar Aufnahmen der New Yorker Band Bad Brains anzuhören, die großartigen Reggae spielen konnte, wenn sie wollte, sich aber oft lieber weiße musikalische Spielarten wie Hardcore und Heavy Metal „aneignete“, und zwar so, daß dem weißen Publikum die Ohren schlackerten und weiße Vertreter der Genres sich lieber Bürojobs suchten.

Hinzufügen könnte man, daß der deutsche Schlager, der nicht nur das Leben meiner Generation „musikalisch“ vergiftet hat, (auch) eine besonders unverschämte „kulturelle Aneignung“ von Wienerlied, Schrammelmusik und proletarischem Volksgesang ist. Aber das führt jetzt zu weit. Und nein, ich halte grundsätzlich nicht viel von schwäbischem Hip Hop, aber nicht deswegen.


2 Antworten auf „(periphere Notate): Panzerhaubitzefrei! oder: Der Sommer der kulturellen Aneignung“

  1. „Panzerhaubitzen 2000“ [Alter Erklärbär kann nicht aus seiner Haut]
    Das sind Panzer, deren (gedrungene) Kanone sich schräger stellen lässt als bei LeopardInnen; Dank deutscher Ingenieurskunst sogar senkrecht in den Himmel. Wenn man dann, je nach Bodenbeschaffenheit, 100-200 mal schießt, bohrt sich der Panzer dank des Rückstoßes so tief ins Erdreich, dass die Besatzung (Crew ?) den Radieschen von unten beim Wachsen zusehen kann.

  2. Während hier die Grünenenden uns zu „CO2-Einsparung“ zwingen („CO2-Einsparen“ ist wie in Eimern Licht ins Rathaus von Schild tragen) und etwa wegen (völlig harmlosem) Kaminofen-Feinstaub Hysterie schüren, einmal jährliche Feuerwerks-Ausnahmeorgien verbieten (bei denen tatsächlich giftiger Feinstaub freigesetzt wird), schicken sie geichzeitig mit leuchtenden Augen Waffen in die Ukraine, die bei deren Gebrauch auf einen Schlag soviel CO2 erzeugen, wie ich in einem Jahr nicht, und hochgiftige Feinstäube erzeugt und aufgewirbelt werden – und Menschen direkt zu schaden kommen und getötet werden.

    Ich kann mir nichts bigotteres, verwerflicheres und dümmeres als Grünenende, Grüninnende und Vergrünendende mehr vorstellen.

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