13 Thesen für asoziale Irre (revisited)

Wer von Armut und Reichtum redet, spricht – oft ohne es zu bemerken – von Arbeit. Eigenartigerweise nämlich hat sich die Menschheit, zumindest im sogenannten zivilisierten „Westen“ – der den „Osten“ mit umfaßt – im Laufe ihrer Geschichte (die man in dieser Hinsicht auch als Evolution bezeichnen darf) in zwei „Kasten“ aufgeteilt. Die eine besteht aus der weit überwiegenden Mehrheit der Menschen, die arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – eine absurde Umschreibung, deren Absurdität deutlich wird, wenn man sie leicht umformuliert: Diese Menschen müssen arbeiten, um zu „verdienen“, daß sie auf Erden leben dürfen.

Die andere „Kaste“, eine winzige Minderheit, arbeitet nicht. Wenn sie es doch tut, übt sie Tätigkeiten aus, die keinerlei Produktivität bewirken: Man handelt zum Beispiel mit fiktiven „Werten“ oder stellt den Angehörigen der arbeitenden „Kaste“ einen Teil seines „Eigentums“ an Grund und Boden zur Verfügung und kassiert dafür enorme Summen, ohne sich zu fragen, ob es ein Eigentum an Grund und Boden überhaupt geben kann.

Ich möchte übrigens nicht mißverstanden werden: Arbeit bedeutet im Rahmen dieser Überlegungen nicht, eine sinnvolle, kreative Tätigkeit zu verrichten. Zu Arbeit wird die Verrichtung der Tätigkeit erst dadurch, daß man dafür „Lohn“ erhält – also nicht das Produkt der Arbeit selbst, sondern einen gewissen Teil seines Gegenwerts in Tauschmitteln. Erst in diesem Sinne wird auch klar, daß zum Beispiel die Vermietung von Wohnraum oder der Handel mit Aktien niemals „Arbeit“ sein kann.

Auffällig ist, und da sind wir beim Thema: daß sich nicht nur die materiellen Besitztümer und Werte (wie das erwähnte Grundeigentum), sondern auch die Tauschmittel, also das Geld, in eskalierendem Maße bei denen ansammeln und akkumulieren, die nicht arbeiten, während den anderen zwar versprochen wird, sie könnten sich durch gute, fleißige und bereitwillige Arbeit ebenfalls einen Teil davon verschaffen, dieses Versprechen aber seit Jahrhunderten nicht nur nicht gehalten, sondern so gut wie ausnahmslos in sein Gegenteil verkehrt wird. Höchstens ein Lotteriegewinn, eine zufällige Heirat oder ein unerwartetes Erbe kann daran im Einzelfall etwas ändern; mit Arbeit hat das indes wiederum nichts zu tun.

Auffällig ist außerdem, daß sich an den Diskussionen über dieses Problem seit Jahrhunderten kaum etwas verändert hat. Höchstens wurden zwischendurch erhellende theoretische Grundlagen zum Verständnis geschaffen, dann wieder vernebelt und vergessen. So dreht sich alles im Kreis und wird immer schlimmer.

Feststellen läßt sich das persönlich, wenn man sich erinnert. Vor etwas mehr als achtzehn Jahren, im März 2004, schrieb ich in meiner Kolumne Belästigungen unter dem Titel „13 Thesen für asoziale Irre“ das Folgende:

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Eigentlich wollte ich über „Arbeit“ und die unerfreulichen Begleiterscheinungen, die damit verbunden sind, nicht mehr nachdenken und schon gar nicht schreiben; leider ist mir da die SPD dazwischengekommen. Leider nämlich habe ich mal Geschichte studiert und davon einen Hang zum Herbeiziehen historischer Vergleiche zurückbehalten.

Arbeit ist nichts Neues, die gab es früher auch (allerdings viel weniger als heute, obwohl ein großer Teil davon inzwischen von Maschinen erledigt wird). Man hörte, wenn man aufwuchs, in unregelmäßigen Abständen das Wort „Beruf“ und dachte ein bißchen darüber nach, wenn man nichts besseres zu tun hatte (Fußball, Indianerspielen, Rumhängen, Comicslesen, Rockplattenhören, Baden, Flaschendrehen usf.). Manch einer fühlte sich schon in jungen Jahren zu etwas berufen, wollte z. B. Holzfäller, Lokomotivführer, Rechtsanwalt werden. Die Ursachen waren mannigfaltig: tolle Muskeln, arges Fernweh, Papis gutgehende Kanzlei. Man war sich stillschweigend einig, daß man wohl irgendwann mal würde arbeiten müssen – aber wenn schon, dann am besten in einem Beruf.

Dann stellte sich heraus, daß das mit den Maschinen besser lief als gedacht. Viele Berufe (die den Leuten, die das große Geld hatten, immer ein Dorn im Auge gewesen waren; schließlich wußten sie selbst nicht, wie man ein Brot, einen Stuhl, einen Roman oder einen guten Schuh herstellt, und waren deshalb auf die renitenten Berufsinhaber angewiesen) verschwanden zwischen „Displays“ und Schaltern. Das fanden viele gut, schließlich träumten 99 Prozent der Menschheit sowieso davon, nicht mehr arbeiten zu müssen. Leider waren die Maschinenbesitzer nicht bereit, von ihrem Gewinn etwas abzugeben, und so mußte man ohne Beruf weiterarbeiten bzw. neue Berufe lernen: Sporteventvermarktungskaufmann, Fast-Food-Kaufmann, Werbekaufmann und solchen Mist. Irgendwann half auch das nicht mehr weiter – viereinhalb Millionen Menschen wollten entweder nicht ihr Leben für Hungerlöhne mit würdeloser Wurstelei verbringen, oder sie konnten nicht, weil ihnen niemand einen Wurstelplatz gab. Die Maschinenbesitzer wurden derweil immer reicher und gaben immer noch nichts ab. Daß das so blieb, dafür sorgte die Partei der Maschinenbesitzer, die in der Regierung für „die Wirtschaft“ zuständig war. Die andere Regierungspartei hatte mit dem Ressort „Arbeit“ einen putzigen kleinen Sozialmops beauftragt, und der machte seine Sache so gut, wie das ein Hampelmann kann: Er hampelte, und wenn es ernst wurde, hielt er das Maul.

Wenn das Ganze zu schlimm würde, dachten viele, bräuchten sie ja bloß die SPD wählen, die täte sich dann schon kümmern. Das tat sie auch, und weil die SPD aber zu feige ist, den Maschinenbesitzern was wegzunehmen, definierte sie einfach den ganzen Themenkomplex Arbeit um. Arbeit, so lernen wir jetzt aus den von Olaf Scholz (vermutlich nicht) verfaßten „13 Thesen für die Umgestaltung des Sozialstaats und die Zukunft sozialdemokratischer Politik“ (Anmerkung 2022: Dieses Schriftstück gab es tatsächlich!), sei „die wichtigste Quelle von psychischer Stabilität und sozialer Identität“.

Das heißt: Nicht nur Milliardäre und Millionäre, nein – auch jeder, der Lotto spielt oder sonstwie von einem ruhigen Leben ohne entfremdete Schufterei träumt, ist ein asozialer Irrer. Arbeit, so erfahren wir weiter, ist überhaupt das Einzige, was im Leben zählt, mithin jeder verpflichtet zu jeder (erst „zumutbaren“, neuerdings überhaupt „legalen“) Arbeit, unter allen Umständen. Qualifikationen, Entfernung zur neuen Arbeitsstelle, ungünstige Arbeitsbedingungen sind „unerheblich“ – steht wörtlich so bei „Hartz“.

Logisch, daß damit auch „Beruf“, Menschenwürde, Selbstbestimmung, Freizügigkeit, Solidarität, Heimat, Familie, Liebe, Freundschaft etc. aus der Welt sind. Alles, faßt Herr Scholz zusammen, sei besser als „Nichtarbeit“, auch „schlecht bezahlte“ und „unbequeme“, auch, fügen wir hinzu, unbezahlte, gesundheitsschädliche, entwürdigende, nutzlose, alle sozialen Bindungen zerstörende Sklavenarbeit irgendwo auf der Welt. Notfalls in einem Lager, denn das ist der logische nächste Schritt, wenn sich erweist, daß sich nicht alle Menschen zwingen lassen, alles zurückzulassen und irgendwohin zu ziehen, um ihr Leben unter- oder unbezahlten Drecksarbeiten zu widmen – um das zu gewinnen, was heutzutage „Freiheit“ heißt (die Möglichkeit, in einem gewissen Maß Produkte zu konsumieren).

Und damit sind wir bei den historischen Vergleichen. Das nämlich, was in Scholz’ Geschreibsel als „Zukunft sozialdemokratischer Politik“ gilt, hat eine andere deutsche Arbeiterpartei (die auch die neosozialdemokratische Zusammenfassung „Arbeit macht frei“ prägte) schon mal vorformuliert: „Ihr sollt arbeiten mit all eurer Kraft und eurem Können an dem Platze, an den ihr gestellt werdet! Jede Beschäftigung ist anzunehmen, auch wenn sie vorläufig eurem erlernten Beruf nicht entsprechen sollte.“ Diese höchst modernen Motivationssätze bekam als „Belehrung“ mit auf den Weg, wer ins Konzentrationslager Dachau gesperrt wurde.

Ich mag jetzt gar nicht mehr darauf hinweisen, daß Wolfgang „Bundesbetroffenheitsbärchen“ Thierse (SPD) kürzlich einen FDP-Kerl wegen „Verwendung nationalsozialistischen Vokabulars“ gerügt hat. Daß er daran „erinnert“ hat, „daß wir bestimmte Assoziationen an die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte vermeiden wollen“. Nein, über so was mag ich jetzt wirklich endgültig nicht mehr nachdenken.

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Hier endete mein Text, damals. An Scholz’ Nazihuberei wird sich heut, 18 Jahre später, niemand mehr erinnern. Ob die „Thesen“ im Laufe der Zeit verschärft und erweitert wurden, weiß ich nicht. Es ist angesichts der Realität zu vermuten. Daß sich eine entscheidende Mehrheit der Bevölkerung von diesem Prozeß der stetigen Faschisierung davon abhalten ließe, die SPD zu wählen, ist widerlegt. Es gibt ja auch keine Alternative.

Was lernen wir daraus? Ich fürchte: nichts. Im Jahr 2022 sind wir dem Punkt, an dem der winzigen „Kaste“ alles und dem Rest – der dennoch „glücklich sein“ soll – absolut nichts mehr gehört, näher gekommen als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Vielleicht immerhin nützt es etwas, sich das bewußt zu machen, vielleicht auch nicht.

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