Neuerdings, so teilt man mir mit, gibt es in Deutschland einen sogenannten Großen Lauschangriff. Damit ist nicht etwa eine autonome Aktion geplagter Radiohörer gemeint, die sich zusammengetan haben, um den Idiotiesirup, der ihnen tagtäglich aus ihren Geräten entgegenbrandet wie aus einem Kuharsch, mal so richtig anzuhören und ihm dadurch die Larve vom Gesicht zu reißen. Nein. Das heißt auch nicht, daß unsere glorreiche Bundeswehr die kompaniedeckende Einführung von Hörgeräten angeordnet hat, damit die Herren Staatsbürger in Uniform die regelmäßigen Gastvorträge prominenter Neo- und anderer Nazis besser verfolgen können. Nein.
Der Große Lauschangriff heißt vielmehr, daß es dem »organisierten Verbrechen« jetzt so richtig ans Eingemachte (bzw. hinter Türen Verschlossene) geht. Was nun ist ein »organisiertes Verbrechen«? Nicht etwa der Bundesverband der deutschen Industrie, nein nein. Auch nicht die Gewerkschaft der V-Männer, die gibt es nämlich gar nicht. Und daß sich die vielen fürchterlichen Schwerverbrecher, die tagtäglich eine hechelnde Masse von Haschischkonsumenten mit ihrem Bröselzeug versorgen, neuerdings darauf besonnen hätten, in ihr Geschäft mal so was wie Organisation zu bekommen, weil ihnen das in dieser Branche übliche Totalchaos den letzten Nerv geraubt hat – das würde sowieso niemand glauben.
Nein, wer ab und zu mal Fernseh-Implosionen wie »Report München«, »Taff« oder einen deutschen Fernsehkrimi über sich ergehen läßt, weiß: Das organisierte Verbrechen, das ist die Mafia, und zwar die russische (Russen sind die Leute, die in den Krimis immer mit existentiell traurigem Blick solche Sachen sagen: »Ärrschissen si mik ruhig, in main Haimatt gann ik sowisso nikt zoröckgähan!«)
Nun haben die zwei oder drei »politischen« Parteien, die in unserem Land Legislative und Exekutive in sich vereinen, bemerkt, daß so ein russischer Mafioso ab und zu mal auch zum Onkel Doktor muß, zum Beispiel weil ihm seine Leber wehtut. Und weil russische Mafiosi, wie wir wiederum aus dem Fernsehen wissen, bei jeder Gelegenheit drauflos schwadronieren wie neun nackte Neger, erzählt er dem Onkel Doktor dann ganz bestimmt alles über seine schändliche Übeltätigkeit. Wenn er nicht gleich zum Beten geht oder mit einem Anwalt eine kriminelle Vereinigung bildet. Uuuuund: weil Vater Staat das hören will, was der russische Mafioso erzählt, werden in Zukunft sämtliche geschlossenen Gebäude, Fahrzeuge und Telephone innerhalb der deutschen Grenzen rund um die Uhr abgehört.
Wie bitte? Das war bisher auch nicht anders? Mag sein, bisher war es aber eigentlich nicht so ganz erlaubt, manchmal. Deswegen tut jetzt der »Gesetzgeber« das, was er immer tut, wenn seine Schergen und Behörden was tun, was manchmal nicht ganz erlaubt ist: Er erlaubt es.
Allerdings mit einer Ausnahme: Abgeordnete (das sind die Leute, die in Parlamenten rumsitzen und in Mikrophone Sätze sagen wie: »Da besteht noch einiges an Entscheidungsbedarf, um den Reformsstau, der durch die Blockaden der Opposition in der entscheidenden Zentralfrage verkrustet ist, einer baldigen Entscheidung zuzuführen, aber wir werden das eingehend besprechen und versuchen, zu einer Regelung zu finden, die eine Entscheidung ermöglichen können werden sollen wird, äh.« – nur am Rande: nachdem inzwischen sogar katholische Pfaffen in den »Tagesthemen« das Wort »Reformstau« stammeln dürfen, ist es Zeit, für die Verwendung dieses idiotischsten aller Blödbegriffe mindestens den Kirchenbann zu fordern!) – Abgeordnete also, so will es das neue Gesetz, dürfen nicht abgehört werden, und zwar auch dann nicht, wenn sie Ärzte, Pfarrer, Anwälte oder russische Mafiosi sind, was bisweilen vorkommen soll.
Typisch, denkt íhr jetzt, da ist die CSU mal wieder fein raus. Ist sie aber gar nicht. Denn erstens könnte ja mal so ein Beichtstuhl-Lauschangriff aus Versehen den Falschen treffen. Zweitens können russische Mafiosi russisch, und bayerische Polizisten nicht. Drittens: Selbst wenn genügend Dolmetscher für das ganze Kauderwelsch eingestellt werden, bringt das herzlich wenig. Denn russische Mafiosi handeln zum Beispiel gern mit Plutonium, und wenn sie das ausplaudern, nützt es der bayerischen Polizei überhaupt nichts, weil sie es sowieso schon weiß.
Vielleicht ist aber auch viel interessanter, was man sonst noch so alles abhören kann: Küchen zum Beispiel, um endlich Tante Annis streng geheimes Apfelstrudelrezept zu erfahren. Wahlkabinen, in denen ABC-Schützen den Papi fragen: »Warum hast du da jetzt ein Kreuz gemacht, wo Kommunion steht?« Autos, deren Fahrer gerade beschließen: »Die rote Ampel nehm‘ ich jetzt noch mit, mir doch egal!«, um dann schon vor der Kreuzung überrascht eine Kelle zu sehen. Und Kneipen: Der Schwachsinn, der täglich an tausenden von Münchner Tresen zusammendiskutiert wird, dürfte selbst härtestgesottene Großfahnder und Berufsdenunzianten ihren sogenannten Verstand kosten.
Und natürlich Telephone. Da bieten sich ungeahnte Möglichkeiten für die Spaßguerilla: Statt den üblichen Telephon-Blödsinn mit »also dann«, »bis die Tage«, »man sieht sich«, »wie geht’s dir« und »okay« zu labern, könnte man die teuren Einheiten genauso gut nützen, um Informationen wie diese weiterzugeben: »Hier Tolstojewski. Ist sich Lieferung von 20.000 Kalaschnikov und sechs Tonnen Heroin eingetroffen. Steht sicher in Schuppen alles, Honepipelstraße sieben in Rückgebäude, hä hä!« Daß es die angegebene Adresse gar nicht gibt, werden die eifrigen Fahnder bei einigermaßen überzeugendem Wolga-Akzent erst merken, wenn sie da sind. Und wir stehen kichernd am Fenster und sehen zu, wie ganze Kompanien von Streifenwägen in wildem Chaos verzweifelt durch Münchens Straßen brettern und Adressen suchen, die es gar nicht gibt. Hi hi.
Wie bitte? Das wäre Aufforderung zu Straftaten? Bitte, wenn das der Frau Obrigkeit lieber ist, können wir in Zukunft in unseren vier Wänden auch ganz einfach die Wahrheit sagen. Was wir zum Beispiel von euch und eurem Großen Lauschangriff und einigen anderen Dingen halten. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt.
Zu wünschen bleibt in dem ganzen Elend allerdings, daß die Lebensäußerungs-Kontrolleure, denen es in Kürze gelingen wird, auf einem vom Mond aus aufgenommenen Photo von Gesamtdeutschland jedes einzelne Gesicht zu erkennen (inklusive verräterischer Züge: Der Sailer glotzt doch da schon wieder so, als würde er jeden Moment den Kapitalismus beleidigen wollen!) – daß diese Herren Allesüberwacher nicht ganz von ihren traditionellen Methoden ablassen, die uns jahrzehntelang mit James-Bond-Filmen und jeder Menge Sachen zum Lachen versorgt haben.
Die Kabarett-Gruppe des Bolschewismus (kurz: K.G.B.) zum Beispiel hat sich 1971 brennend für den durch die Sowietunion tourenden britischen Komponisten Benjamin Britten interessiert und ihm deshalb die verführerische Sexbombe Fräulein Solokow auf den Hals gehetzt, um dem orgasmisch stöhnenden Britten Geheimnisse über die Zustände in imperialistischen Operngarderoben zu entlocken. Vielleicht wußten Breschnews brummige Schnüffler nicht, daß Sir Benjamin damals gerade an der Vertonung von Thomas Manns gestelztem Schwuchtel-Langweiler »Der Tod in Venedig« werkelte und überhaupt gerne auf weibliche Lebensbeteiligung verzichtete. Ende der Posse: Das Fräulein blieb solokow, der von ihren dauernden Anmoppelungen genervte Britten flüchtete von Moskaus kalten Straßen in die Wärme der britischen Botschaft und erflehte sexuelles Asyl. We are amused.
Auf andere Erfreulichkeiten dagegen werden wir in Zukunft verzichten müssen: Abgehört werden nämlich auch jene Brutstätten der Majestätsbeleidigung, die sich Redaktionen nennen und in die reumütige Angestellte industriell oder regierungsamtlich organisierter, äh, Interessensvertretung gerne flüchten, um sich zu erleichtern. Das werden sie nun tunlichst unterlassen: Chef hört mit. So werden uns folglich unsere Kinder, wenn sie in der Schule von Strauß, Flick, Strauß, Barschel, Pfeiffer, Strauß und Strauß hören, nicht etwa fragen: »Wie konnte das nur geschehen?« Sondern: »Wie habt ihr das nur erfahren?«
Anmerkung: Diese Folge meiner Kolumne entstand im Januar 1998 (und erschien im März), als noch niemand (auch ich nicht) wußte, was eine National Security Agency ist, und niemand geahnt hätte, daß es einmal Gesetze geben könnte, die die Kontrolle, Überwachung und Durchsuchung sämtlicher schriftlicher Mitteilungen und Kommunikationen auf elektronischem Wege legalisieren. Da konnte man sich also noch unbeschwert über derlei Skandale lustig machen. (Auf Papier nachzulesen ist der Text in dem Buch Eure Armut kotzt mich an. Belästigungen 1-100.)