Blick über den Fluß

(ein verspäteter Beitrag zum fünfzehnten Todestag von Michael Rudolf: verspätet ohne Absicht, nicht ohne Sinn)

Wie wenig man einen Menschen kennt, merkt man dann, wenn er etwas tut, was man überhaupt nicht versteht. Manchmal ist es auch umgekehrt: Da merkt man daran, daß jemand etwas tut, was man nicht versteht, wie gut man ihn kennt. Wenn er mit einem am Tisch sitzt und plötzlich und scheinbar ohne jeden Anlaß zu weinen anfängt. Da merkt man, wie nahe er einem ist, obwohl man nicht weiß, was los ist, und auch nicht fragen möchte, weil man manchmal nicht fragt, egal was.

Menschen sind kompliziert, man versteht sie oft nicht, und meistens ist das auch egal, schließlich versteht man weder sich selbst noch die Welt, und was soll der Schmarrn, solange es uns gut geht und wir viele sind und lachen. Dann ist einer plötzlich weg, zwei Tage nach einer E-Mail, von der man nie gedacht hätte, daß es die letzte sein würde: ein fröhlicher Zweizeiler mit der Unterschrift „Danke. Greiz“ (was einem erst viel später auffällt, wenn man seine vielen, vielen E-Mails noch mal durchschaut und die seltsamsten Unterschriften wiederfindet). Da fängt man an nachzudenken, zu suchen im Gedächtnis und in Belegen, aber man versteht nichts und hofft. Mit der Ahnung, daß man den, der weg ist, nicht so gut kennt, wie man geglaubt hat, und der Selbsteinredung, das sei nicht wahr und er, der irgendwo dort draußen herumirrt und sich doch kennen muß, verstehe selbst nicht, was passiert. Und dann, nach Wochen, Monaten, einem halben Jahr, ist die Hoffnung mit einem Schlag zu Ende und will doch nicht weggehen. Noch lange danach hat man die Ahnung, es werde gleich das Telephon klingeln und er dran sein. Allet wieder jut, Mensch. Nein.

Wir haben uns kennengelernt, ohne uns kennenzulernen; saßen Ende September 2000 einen Vor- und Nachmittag lang an sommerlichen Biertischen, weil ein Münchner Zeitungsreporter ihm und einem gemeinsamen Freund beim Biertrinken zuschauen und ihre Meinung über das Oktoberfestgebräu mitnotieren wollte. Miteinander haben wir so gut wie nicht gesprochen; als der Reporter weg war, wurde der Michel sehr müde und mußte heim.

Dann kam, wohl ein halbes Jahr später, eine Einladung, und erst mal wußte ich gar nicht recht, wer das war, der mich da einladen ließ, ihn und ein paar ausgewählte Freunde zu einem „Anti-Pop-Autorentreffen“ in der Fränkischen Schweiz zu begleiten. Ich sagte zu und fuhr hin, nicht ahnend, was mich dort erwartete, vor allem nicht ahnend, daß mich dort ein ganztägiges fünfköpfiges Wandern von Biertisch zu Biertisch und Sitzen an denselben erwartete, anläßlich dessen ungeheure Mengen Bier verzehrt und ein ungeheurer Unfug zusammengeredet wurde, ein so ungeheurer Unfug, wie ihn nur Gleichgesinnte zusammenreden können, wenn sie sich einmal im Jahr oder im Leben aus der dummen Welt zurückziehen, um das Klügste zu tun, was man tun kann: Unfug reden. Daß der Michel dort auch Geburtstag hatte und das so was wie der „echte“ Anlaß war, erfuhr ich glaube ich erst im Jahr darauf, beim nächsten Treffen, oder beim übernächsten.

Von da an blieben wir, wie man das so sagen muß: „in Kontakt“, allerdings nur noch ein einziges Mal übers Telephon, als der Michel für Ina und sich eine Übernachtungsgelegenheit für einen Konzertbesuch in München anfragte. Wie aus einer unausgesprochenen Vereinbarung heraus habe auch ich seine Nummer nur das eine Mal benutzt, als unser erstes Treffen in Franken zu vereinbaren war, zu dem er mich von einem gemeinsamen Freund einladen hatte lassen. Ich telephoniere fast nie, weil mir das Sprechen nicht recht gelingen will, ohne jemanden anzuschauen, mich zu bewegen und solche Sachen. Vielleicht ging es ihm ähnlich. Wenn er sprach, grimassierte er, warf sich auf den Tisch, machte theatralische Gesten, blickte wider- und weiterwortsuchend in die Runde; das war nötig; und oft hatte ich das Gefühl, es sei ihm vor allem das wichtig: daß es uns, den anderen gut gehe in seiner Gesellschaft. Erst viel später habe ich bemerkt, daß er kaum je lächelte. Er grinste viel, das war ansteckend, lachte auch, aber selten entspannt, und erst als ich Photos von unseren Wanderungen betrachtete, viel später, danach, sah ich in seinem Blick immer wieder das Bemühen, die Mühe, die Müdigkeit, manchmal einen Anflug von Verzweiflung. Nur auf einem einzigen Bild – er steht auf einem Felsen, blickt über einen Fluß und wähnt sich unbeobachtet – meine ich, ihn lächeln zu sehen. Ich wüßte gerne, was er da gedacht hat, oder lieber nicht. Ich hätte es gerne gewußt, vielleicht.

Ob ich ihn bei unserem fünften, dem sechsten Treffen gekannt habe, weiß ich nicht. Wir sprachen so gut wie nie über uns, über ihn, wohl vorsätzlich: Die Welt und der Unfug waren wichtiger, vielleicht auch einfach nur leichter. Die E-Mails, die wir austauschten, unterlagen großen Schwankungen. Mal kam wochenlang gar nichts, dann ein paar sporadische, manchmal rätselhafte Zeilen, dann im Zweitagesrhythmus eine regelrechte Wortlawine. Ein nicht geringer Teil der Korrespondenz hatte (neben Pilzen, Bieren und Rockmusik) mit seiner unergründlichen Krankheit zu tun, für die wir immer neue Ursachen und Lösungsmöglichkeiten erwogen, ohne mehr Erfolg als sehr schnell vorübergehende Linderung. Wie ernst es war und welche Qualen er durchmachte, habe ich nicht begriffen bis zu dem Tag, als wir am Tisch saßen und er plötzlich und scheinbar ohne jeden Anlaß zu weinen anfing. Auch da sind wir sprachlos geblieben. Es ging gleich wieder, scheinbar. Allet wieder jut, Mensch. Nein.

Er konnte streiten, schimpfen, Tiraden schmettern, daß man einen Polizeieinsatz befürchten mochte; am besten schriftlich, da mußte er nicht gleichzeitig versöhnlich grinsen. Was er offenbar nie wollte, war: sich durchsetzen, schon gar nicht mit seiner Kunst (und wenn sie noch so heftig um sich schlug), die einige der abwegigsten und mindestens eines der schönsten Bücher deutscher Sprache geschaffen hat. Verlegt haben sie dumme, unfähige, verständnislose Verleger, und gelesen haben sie wir, seine Freunde, und vielleicht noch ein paar Menschen, also sagen wir: Gelesen hat sie niemand. Ob er darunter litt, weiß ich nicht. Wahrscheinlich doch ein bißchen, aber er ließ es sich so gut wie nicht anmerken; man mußte sehr genau hinhören und konnte dann auch nicht sicher sein, ob man es sich nicht einbildete. Komischerweise war ausgerechnet er, mit seiner ganzen, manchmal erschreckenden Sprunghaftigkeit, einer von den wenigen Freunden, mit denen ich nie gestritten habe. Und so gut wie der einzige, auf den ich nie sauer war. Und der einzige, dem ich nur achtmal begegnet bin und trotzdem das Gefühl hatte, ihn schon immer und für immer zu kennen.

Wie sehr ich ihn mag, liebe, brauche, habe ich erst gemerkt, als er fort war, auf eine Weise fort, zu der ich noch immer nicht „tot“ sagen kann und vielleicht nie sagen kann. Dann, nach dem Ende, merkt man irgendwann doch und möchte es auch einsehen, daß er fort ist und daß nicht mehr viele übrig sind, weil wir noch nie viele waren. Und dann möchte man selbst am Tisch sitzen und weinen und nicht verstehen, warum.

(geschrieben im Herbst 2007 für das von Jürgen Roth herausgegebene Buch „Der Mann mit den neunhundertneunundneunzig Gesichtern“. Michael Rudolf hatte am 2. Februar 2007 beschlossen, diese Welt zu verlassen. Die Welt oder wenigstens wir erfuhren davon am 9. Juli)

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