(periphere Notate): Tote Kühe melken

Das Gemeine, das Böse an der Depression ist ihre logische Selbstverstärkung: Sie quillt wie schwarzer Schleim aus dem Schneckenhaus der Einsamkeit, das in ihr versinkt und kein Licht mehr hat.

Wer eine Depression erlebt hat, weiß, daß man nichts tun kann. Wenn man nichts tut, wird die Depression schlimmer. Die Welt versinkt in Nebeln, die näherrücken. Darin vermutet man Gestalten. Die schlimmsten sind Gestalten, die einst vertraut waren, jetzt verzerrt starren in vermuteter Hysterie (man sieht sie ja nicht, ahnt sie nur). Man möchte erwachen, aber man ist ja wach.

„Um als Kind rechts und links auseinanderhalten zu können, half ich mir mit der Frage, mit welcher Hand ich boxen würde. Kein Wunder, daß mir später die andere sympathischer war.“ (Adriano Sofri)

Unterdessen verkündet der Propagandasender zwischen der viertelstündlichen Ablesung der „Inzidenzzahlen“, die US-Regierung rate Diplomaten und Botschaftspersonal zur Ausreise aus der Ukraine. Der seit Wochen herbeigebetete „Einmarsch“ der Russen steht also wohl unmittelbar bevor. Hoffentlich erfahren die Russen rechtzeitig davon, um ihn möglicherweise zu verhindern.

Das graue Weiß dieser Tage eignet sich offenbar gut als Leinwand für eine geisterhafte Realität, von der ich mich jetzt schon frage, ob sie uns im nachhinein real erscheinen kann. Immer wieder fragt man sich: Was geht vor in den Menschen?

„Eine Kultur, in der die rechte Hand nicht nur von Natur aus besser ausgestattet ist, sondern auch noch Kraft, Mut und Leben verkörpert, während die linke Hand das Gegenteil darstellt, wird die Verachtung und den Exorzismus gegenüber der linken Hand so weit treiben, daß sie schließlich ihre Benutzung untersagt, sie einschnürt und lahmlegt.“ (Adriano Sofri)

Und schaut, wie sie Kraft, Mut und Leben verstrahlen, die Rechtsgläubigen, wenn sie kräftig, mutig und lebendig eindreschen auf den Pöbel, die scheinbar Hilflosen, die mit Kerzen in den Fingern durch die blaulichtdurchblitzte Nacht schleichen und nur heimlich lächeln. „Schwurbelnde ‚Spaziergänger‘“ seien das, blökt ein präsidierender Ehrenmann, der schon den Faschisten im Osten stählend zur Seite stand und doch aussieht wie ein ungelenker, falscher Märchenerzähler, dem kein wahres, schönes Wort gelingen kann, weil ihm dabei das Gesicht zerfiele, und bei dessen Anblick ich stets unwillkürlich an den grauen, stumpfen, gewöhnlichen Rudolf Heß denken muß; nein, nicht denken: Er kommt mir in den Sinn, ohne daß ich erklären könnte, warum. Es ist, zum Glück, nur ein optischer Effekt.

In seiner heutigen Rede schafft es der hetzende Nußknacker keine fünf Zeilen weit, ohne politische Morde, Mordversuche und Morddrohungen zu beschwören und sanft säuselnd den „Spaziergängern“ in die Schuhe zu schieben oder als finale Absicht zu unterstellen. „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Ordnungsämtern, Busfahrerinnen, Straßenbahnfahrer oder Verkäuferinnen und Verkäufer könnten uns erzählen, wie aggressiv Maskenverweigerer mitunter auftreten!“ Da hat er doch glatt die Tankwarte vergessen, die massenweise von niederträchtigen Impfleugnern niedergeschossen werden.

Nein, hat er selbstverständlich nicht. Wo eine totgemolkene Kuh herumliegt, muß der Demagoge noch mal am Euter rupfen: „Es war am 18. September des vergangenen Jahres, als ein Maskenverweigerer in Idar-Oberstein einen zwanzigjährigen Tankstellenangestellten mit einem gezielten Kopfschuß ermordete. Schulleiterinnen und Schulleiter wissen, wie bedrohlich es wird, wenn Reichsbürger Briefe schreiben und versuchen, schon die Jüngsten vom Impfen abzuhalten.“

Das ist es also, was Reichsbürger den ganzen Tag so tun: Briefe schreiben an die „Jüngsten“, um sie vom Impfen abzuhalten, bevor sie alt genug sind, um selbst entscheiden zu können! Es kommt leider nicht selten vor, daß man sich für deutsche Politiker schämen muß, aber bei einer Bevölkerung, das sich einen solchen Präsidenten gefallen läßt, ist, sorry, Hopfen und Malz verloren. Wenn so einer sagt, „Haß und Gewalt zerstören das Fundament unseres Miteinanders“, dann möchte man ihm wegen dieser Unverschämtheit das Phrasengummibärchen „unser Miteinander“ am liebsten drei Monate lang als Hauptgericht auf den schlößlichen Speisezettel schreiben.

„Es muß uns allen Sorgen machen, wenn es Regionen oder Orte in unserem Land gibt, wo Menschen, die offen für die Demokratie eintreten, sich fragen, ob die Mehrheit eigentlich hinter ihnen steht.“ Das könnte der einzige wahre Satz in Steinmeiers Sermon sein, der indes ebenfalls eine dreiste Lüge ist, weil er ja gerade nicht die meint, die offen für Demokratie eintreten und sich längst nicht mehr fragen, ob der Präsident und sein Mehrheitsmob hinter ihnen stehen.

Rudolf Heß war, zumindest erschien er den Briten so, eine Plappermaschine anderer Art, der „entflogene braune Wellensittich“, der jede Phrase seines Führers auswendig hersagen konnte, ohne begreifen zu müssen, was er da zwitscherte und was es bedeutet. Wohin man auf diese Weise geraten und andere bringen kann, hätte man an seinem Beispiel studieren können.

Aber es mag Menschen geben, denen man eine Brille ins Gesicht klemmen muß, damit sie öffentlich wie solche erscheinen. Sehen müssen sie damit nichts.

Was im (extrem) rechten Denken „Kraft, Mut und Leben“ verkörpert, ist vor allem der Tod oder genauer: das Tote, der schwarze Schleim, der aus dem Dunkel quillt. Daher schon die Hitlerschen „Ehrentempel“ (wo zwecks Zahlensymmetrie ein zufällig mitgefallener Kellner des späteren Cafés „Tambosi“ als „Blutzeuge“ herhalten mußte). Daher auch die berüchtigten Pilgerzüge nach Wunsiedel, wo Rudolf Heß vergraben war: Gelebt nämlich hatte er dort nie; man suchte nur die Aura der Verrottung dessen, was in der technischen Realität von ihm geblieben war.

Den Vogel schoß in dieser Hinsicht sozusagen eine „Aktionsgemeinschaft Nationales Europa“ ab, indem sie den damals schon halbtoten Heß 1977 zum Kandidaten für das europäische Parlament erkor. Über diese Organisation wäre manches zu erzählen, was die „neuen“ Rechten über die „alten“ Rechten nicht so gerne hören. Ihr Führer (der sich selbst „Reichsverweser“ nannte) war nicht nur Mitgründer des „Kampfbunds deutscher Soldaten“ und verteidigte den „Ruf“ Adolf Hitlers, den er in der Nachkriegszeit „mit Schmutz beworfen“ sah, sondern wirkte auch in der rechtsextremen „Deutschen Gemeinschaft“ mit. Die ging 1965 in der „Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher“ (AUD) auf, die nach knapp eineinhalb Jahrzehnten des politischen Irrlichterns ein Bündnis mit der „Grünen Aktion Zukunft“ einging, das sich „Die Grünen“ nannte und 1980 zur Partei wurde.

Deren erster Bundessprecher August Haußleiter, einst glühender Nationalsozialist, war nach dem Krieg Mitgründer und stellvertretender Vorsitzender der CSU. Die verließ er 1949 nach einem Streit über seine Verherrlichungsmemoiren „An der mittleren Ostfront“, gründete die rechtsextreme „Deutsche Union“ und dann die erwähnte „Deutsche Gemeinschaft“ (DG), für die er nach der Fusion mit dem „Bund der Heimatlosen und Entrechteten“ wieder in den Landtag einzog. Inzwischen für die Nazizeitschrift „Nation und Europa“ tätig, sammelte er nach dem strategischen Zusammenklappen des BHE 1953 Leute von der vor dem Verbot stehenden „Sozialistischen Reichspartei“ (SRP), der „Deutschen Reichspartei“ (DRP), dem „Deutschen Block“ und anderen Vereinen zum „Dachverband der Nationalen Sammlung“ (DNS), aus dem aber auch nicht viel wurde, und landete schließlich 1965 mit den DG-Resten bei der AUD. 1979 benannte er seine Zeitung „Deutsche Gemeinschaft“ in „Die Grünen“ um und saß ab 1986 als solcher noch mal ein paar Monate im Landtag, ehe er mit 82 dann doch mal Ruhe gab.

Alles Schnee von vorgestern. Die Rückkehr seiner Partei zum ostwärts gerichteten Bellizismus einiger ihrer Vorgängerorganisationen erlebte Haußleiter nicht mehr mit. Die paradoxe Bezeichnung „linksgrün versifft“, die den rechten Kriegstrommlern, Technokraten und Wachstumsfanatikern heute bisweilen zuteil wird (wohl um sie für schwäbische Müslikäufer weiterhin wählbar zu halten), blieb ihm auch erspart.

Derweil gehen die, die sich „links“ wahlweise wähnen beziehungsweise nennen lassen, stur der Frage aus dem Weg, was sie ihren Mitläufern eigentlich zu bieten haben. Aufzählen ließen sich Kriegsgeilheit (die sie ausreichend heißpeitschen, um das, was der Sturm gegen Rußland nach sich ziehen kann, völlig auszublenden), die schwarzschleimige Sehnsucht nach einer Gesellschaft als technokratischem Gesamtlabor zur Züchtung steriler Menschmaschinen und schwammiges Gerede von synthetischen Identitäten. Für das ausgebeutete Proletariat (das man heute nicht mehr so nennen darf, weil es Gewerkschaften nur noch dem Namen nach gibt) dürfte das in etwa so attraktiv sein wie das, was ihm Duesterberg und die Deutschnationale Volkspartei 1932 zu bieten hatte.

Apropos: „Vater sagte, ich solle mich raushalten aus so was. Aber Richards Vater hatte ein Sprichwort, und das hieß: ‚Brot wird auf der Straße gebacken.‘“ (Wolfdietrich Schnurre, „Und Richard lebt auch nicht mehr“, 1958)

Und das auch noch: Der bayerische Rundfunk berichtet live aus der Notaufnahme eines Krankenhauses in Fürth. Ärzte und Personal sind sehr unter Druck, weil jeder Patient getestet werden muß und sie ständig Schutzkleidung an- und wieder ablegen müssen. Wegen „Omikron“, klar. Derweil strömen die Patienten nur so herein, in ungewöhnlicher Zahl, wie der Chefarzt berichtet: Thrombosen, Schlaganfälle, Myokardinfarkte. Fragt die Reporterin, wieso diese Fälle in solchen Massen auftreten? Fragt sie nach „Impfungen“? Naive Idee.


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