Belästigungen 14/2021: Was, wenn wir uns geirrt haben?

Ein Leser schrieb, freundliche Worte fände ich in letzter Zeit nur noch für Tiere und schrübe offenbar deswegen lieber über solche als über die schlimmen Menschen. Das könne er nachempfinden, weil es ihm (mit Ausnahme von Zecke und Mücke) ebenso gehe, allerdings nicht aus Menschenfeindlichkeit, sondern weil wahre Menschen heute selbst mit Diogenes’ Laterne nicht mehr aufzutreiben seien.

Da bin ich anderer Meinung. Zwar: Vom Marxisten bis zum Technofaschisten, vom Menschenfreund bis zum satanischen Ausbeuter, vom pädagogischen Idealisten bis zum grimmigen Militärmordplaner ist seit je her so gut wie niemandem der Mensch, so wie er ist, recht – alle wollten und wollen ihn pimpen, erweitern und insbesondere aufrüsten, um ihn „besser“ zu machen. So richtig gelungen ist das aber bislang noch niemandem, nicht einmal den Silicon-Valley-Irren, die ihren ersten Sex mit einem Digitalwecker hatten und sich, wären sie zweihundert Jahre früher geboren, sicherlich nichts Erstrebenswerteres hätten vorstellen können, als sich mit einer Dampfmaschine zu kreuzen und dadurch zum unsterblichen transhumanistischen Hyperwesen zu werden.

So ist der Mensch irgendwie doch geblieben, was er ist: ein prinzipiell lustiges und liebenswertes Weichtier, das allerdings eine angeborene Neigung zum Streiten pflegt, die weder ihm selbst noch seiner Umwelt zugutekommt. Da mag man einwenden: Das tun andere auch! Stimmt aber höchstens bedingt. Zwar zwetschern und zwatschern sich auch die Meisen vor unserem Fenster gelegentlich ziemlich derb an, wenn eine mal wieder zu lange braucht, um sich ein Körnchen rauszusuchen, und so den stetigen Fluß von Anflug-Picken-Abflug ins Stocken bringt. Das ist aber immer gleich wieder vergessen. Selbst die mißgünstigen Elstern und Krähen stimmen ihre generellen „Bäh! Bäh!“-Choräle wohl mehr aus Überdruß und Langeweile an. Daß es deswegen zu langfristigen Verstimmungen gekommen wäre, die sich zu Grundsatzdiskussionen mit anschließender Gesellschaftsspaltung ausgewachsen hätten, ist in unseren Annalen nicht verzeichnet.

Anders der Mensch, der beim „Prinzip“ überhaupt erst richtig loslegt und wegen eines nebensächlichen Problems am Ende dem Streitgegner eine Gehirnamputation, eine asoziale Verbrechernatur und eine schiefe Nase bescheinigt und wegen derartiger Dringlichkeiten notfalls Bürger- und Weltkriege vom Zaun bricht, jedenfalls aber Gesellschaftsverträge aufkündigt und unnachgiebige (Ex-)Mitmenschen zu Vieh erklärt (dabei aber übersieht, daß selbiges – was die friedliche Beilegung von Meinungsverschiedenheiten angeht – längst eine viel höhere Evolutionsstufe erreicht hat).

Lustigerweise ist der Mensch auch das einzige Lebewesen, bei dem das Leben nicht im Kreis läuft – Frühling, Sommer, Herbst, Winter, und dann geht’s von vorne los. Sondern stets nach vorne strebt, weshalb sich auch Malheur und Verdruß, ebenso wie Zins und Zinseszins, potentiell bis ins Unendliche anhäufen. Drum muß er ab und zu die Bremse reinhauen, sich kurz schütteln und ein paar Sachen über Bord schmeißen, weil ihm sonst alles um die Ohren fliegt.

Warum sich dafür ausgerechnet das Jahresende oder vielmehr der Jahresbeginn besonders gut eignen soll, wissen wir nicht. Vielleicht waren die weihnachtlichen Freßexzesse und Diskussionsorgien der Grund: Einen Schritt weiter, mag man erkannt haben, dann zerreißt es noch vor der Familie die Plautze oder andersrum oder beides gleichzeitig. Typisch Mensch, daß auch das wieder übertrieben werden mußte: alles oder nichts, tabula rasa! hieß es, und drei Tage später war der neue Schmarrn wieder der alte.

Drum wäre es vielleicht in diesem Jahr, das in vielerlei Hinsicht streitgesättigter scheint als so ziemlich alle, die wir gemeinsam erlebt haben, an der Zeit, den Eifer zu drosseln und etwas zu suchen, was dem Menschen an sich völlig fremd sein mag, aber segensreich wirken kann: ein gesundes Mittelmaß. Und die Einsicht: Wir (alle) könnten uns geirrt haben.

Dann wird zum Beispiel Sascha Mölders einräumen müssen, daß eine Mannschaft keine Einzelveranstaltung ist und eine Karriere an ihr Ende kommen kann. Der TSV 1860 wiederum könnte einsehen, daß man Menschen mit einem gewissen Kerbholz nicht einfach so hinausschmeißt. Erzautofahrer könnten zumindest im Geiste mal aufs Radl steigen und „ihre“ Straßen mit anderen Augen sehen, stramme SUV-Hasser zugeben, daß eine Parkplatzsuche sich zur Gefahr für das mentale Gleichgewicht auswachsen kann. Impffanatiker dürften sich unvoreingenommen mit gewissen Nebenwirkungen beschäftigen, Impfgegner andererseits mit historisch belegten Vorzügen der Immunisierung. Philanthropische Weltkommandeure könnten sich fragen, ob sie wirklich so genau und irrtumsresistent wissen, was gut für jeden Menschen, jedes Tier und jede Pflanze im Universum ist. Revolutionären Antikapitalisten wäre es gestattet, noch den schlimmsten Ausbeuter und Blutsauger als ganz normalen Menschen mit Ängsten, Nöten und einem Herz zu betrachten (notfalls indem sie sich ihn nach dem Weihnachtsessen auf dem Klo vorstellen). Verschwörungsleugner könnten vorsichtig einräumen, daß Weltgeschichte, Wirtschaft und vielleicht sogar die eigene Familie ein Gestrüpp von irrwitzigsten Ränkeschmiedereien sind. Zufallsleugner wiederum müßten anerkennen, daß es manchmal auch einfach so „bumm!“ macht und die Folgen oft umfangreich sind, ohne daß Gates, Putin oder die Mafia dahinterstecken.

Man wird sich nie ganz einig werden, und selbstverständlich liegt die Wahrheit nie in der Mitte, sondern tänzelt graziös und ungreifbar im nebulösen Feld der Möglichkeiten herum. Das wird sie immer tun, weil der Mensch für sie nun mal zu klein ist. Es geht aber gar nicht darum, sie zu packen und in den Stall des eigenen Argumentationsbetriebs zu stellen. Sondern darum, zu erkennen, daß es sie vielleicht gar nicht gibt, daß es aber etwas auf jeden Fall gibt, was viel wichtiger ist, was einem jedoch in dem Wahn, alles zu wissen und zu bestimmen, irgendwann so völlig aus dem Blick gerät, daß man alles kaputtzumachen droht: die anderen, Menschen, Tiere, Pflanzen und so weiter.

In diesem Sinne: ein geruhsames Jahresende und einen schönen Beginn (von was auch immer)!

2 Antworten auf „Belästigungen 14/2021: Was, wenn wir uns geirrt haben?“

  1. Hallo Herr Sailer
    Danke f. die vielen erhellenden Beiträge des vergangenenJahres . Hoffe mit Ihnen auf ein neues , besseres 2022.
    Ihnen u. Ihrer Familie alles Gute dafür.
    Grüße aus Sachsen
    Stefan Friedrich

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