(periphere Notate): Keine Diktatur mit Petze-Plinchen?

Es ist sicher nicht die differenzierteste politische Aktivität, durch Städte zu gehen und „Friede, Freiheit, keine Diktatur!“ zu rufen. Daß Demonstrationen notwendigerweise eine Tendenz zur Vereinfachung innewohnt, ist andererseits auch keine ganz neue Erkenntnis. Schon als vor vielen Jahrzehnten in Deutschland gegen den „Atomtod“ aufbegehrt wurde, mahnte manch einer an, dies sei ein bißchen unterkomplex (obwohl es diese Modevokabel damals noch nicht gab). Ob Wiederbewaffnung, Notstandsgesetze, Vietnamkrieg, Chileputsch, Pershing II, Atomkraft, Gorleben, Neutronenbombe, Hartz IV oder sonst was – stets ließ sich relativ leicht nachweisen, daß es sich bei den Protestierenden um „Berufsdemonstranten“ beziehungsweise „Naive“, „Verführte“ und solche Menschen handelte, die sich für ganz falsche Ziele „einspannen“ ließen (meist die Ziele der Feinde der NATO oder Deutschlands).

Dieses Geschäft erledigten weitenteils die Medien, die stets einschlägige Bilder zeigten und einschlägige Aussagen kolportierten. Die kamen nicht selten von eingeschleusten Provokateuren, mit deren Einsatz es zumindest langfristig gelang, jede einzelne Widerstandsbewegung nach dem zweiten Weltkrieg zu diskreditieren und zum Schweigen zu bringen. Der empörte Impetus floß dann in die gängigen Institutionen (vor allem Parteien), wurde dort umgehend verwässert und löste sich auf.

So auch jetzt und heute. Wer die Zehn- oder Hunderttausenden sind, die auf die Straße gehen, um ihren Unmut über die „Corona“-Sanktionen und die anstehende Zwangsimpfung kundzutun, und was sie wollen, was sie ängstigt, worauf sie hoffen, was sie stört, was sie sich wünschen, interessiert weitestgehend niemanden, solange nur brav ein paar „Störer“ sich in die Menge mischen und mitlaufen. Und wenn die mal partout nicht aufzutreiben sind, phantasiert man sie eben herbei; es „weiß“ ja jeder, daß sie zumindest dabeisein hätten können. So ist es wohl zu erklären, daß der Oberbürgermeister von Mannheim den tausenden Spaziergängern, die in „seiner“ Stadt „Friede, Freiheit, keine Diktatur“ riefen, unterstellte, sie wollten „eine Diktatur etablieren“. Er hingegen will das nicht, sonst hätte er ja „Unfriede, Unfreiheit, Diktatur!“ gerufen, nicht wahr?

Es will ja bekanntlich jeder immer das Gegenteil von dem, was er will oder zu wollen behauptet. Oder so ähnlich.

Völlig ohne jeden Zusammenhang, aber mir zufällig in die Hände geraten ist ein Artikel aus der Zeitung „Bayrische Ostwacht“ vom 22. Dezember 1934. Darin wird über einen Anschlag auf das Kaufhaus Krell in Weiden berichtet, bei dem in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember ein Schaufenster eingeschlagen wurde. Unter der Schlagzeile „Provokateure werfen Schaufenster ein“ ist zu lesen:

„Es ist sicher, daß man die Tat nicht auf das Konto von uns Nationalsozialisten setzen kann. Man versucht es zwar, wir warnen aber jeden, es zu tun. (…) Es besteht allerdings auch eine andere Möglichkeit – und diese ist nicht so ohne weiteres abzulehnen. Wir sind nahe an der Grenze der Tschechoslowakei, wo hunderte und tausende ‚deutscher‘ Emigranten leben, die uns natürlich auch mal gern etwas auswischen wollen. Es ist für diese Herrschaften doch sicher ein leichtes, einen guten Freund mit ein paar Markln dazu zu verleiten, daß er ein oder zwei große Steine nimmt und in einem jüdischen Geschäft das Fenster einwirft. Man wird nun sicher wieder überall in den Emigrantenblättern eine neue Sensation lesen können: ‚Jüdisches Kaufhaus von Nazis gestürmt!‘ (…) Wir lassen uns eine derartige Handlungsweise dunkler Kräfte nicht bieten. Wir werden Mittel und Wege finden, diese Provokateure unschädlich zu machen. Die polizeilichen Ermittlungen werden den Beweis erbringen, daß die Täter nicht Nationalsozialisten waren, sondern Provokateure schlimmster Art. Denn wir haben es wirklich nicht nötig, mit solchen Mitteln zu ‚arbeiten‘. So schlimm steht es um uns denn doch noch nicht!“

Das „beweist“: nichts. Es zeigt höchstens, wie verworren viele Vorgänge werden, wenn (echte oder, in diesem Falle wahrscheinlicher, imaginierte) Provokateure, V-Männer, Spitzel und andere Kräfte ins Spiel kommen. Man muß dabei gar nicht an eine deutsche Nazipartei der Nachkriegszeit denken, deren Verbot daran scheiterte, daß sie offenbar fast ausschließlich aus solchen Quertreibern bestand. Man muß auch nicht an den berüchtigten Verfassungsschutzagenten „S-Bahn-Peter“ Urbach denken, der in den 60er Jahren die linke Szene vor allem in Berlin so monopolistisch mit Molotow-Cocktails, Pistolen, Bomben und ähnlichem Gerät belieferte, daß es ohne ihn und den Verfassungsschutz wahrscheinlich die Kommune 1, kaum aber die RAF und die Bewegung 2. Juni gegeben hätte.

Man muß dabei auch nicht an die „Querdenker“ denken, die derzeit ständig überall gesichtet werden, wo jemand Widerspruch gegen die „Corona“-Strafmaßnahmen kundtut. Diese seltsamen Phantome nämlich zeichnen sich offenbar dadurch aus, daß sie sich durch nichts auszeichnen, außer eben daß sie „mitlaufen“ und als Rechtfertigung für Versammlungsverbote herhalten müssen.

Die werden dann wie folgt begründet. In Berlin sollte an diesem Wochenende eine Demonstration stattfinden, deren Veranstalter sich in vorauseilendem Gehorsam eifrig von den „Querdenkern“ distanzierten und abgrenzten und versprachen, sich ausdrücklich an die „Hygienevorschriften“ zu halten, was bedeutete, „Abstand zu halten“, unter freiem Himmel Gesichtsmaskierungen zu tragen und somit ein tausendfaches Signal der Unterwerfung abzugeben.

Verboten wurde die brave Demo trotzdem. Die „Versammlungsbehörde“ (von deren Existenz ich bislang nichts wußte) teilte zunächst mit, sie „plane“ ein Verbot, da man „Anhaltspunkte“ habe, daß „Querdenker“ „planen“, auf die Demo zu kommen. Diese seien „dafür bekannt, sich nicht an die Hygieneauflagen zu halten“. Kurz darauf erging die Untersagungsverfügung.

Und da muß ich nun doch wieder an die „tschechoslowakischen Provokateure“ denken, denen die oberpfälzischen Nazis ihren Vandalismus in die Schuhe schieben wollten, als das noch opportun schien. Was sicher keine legitime Verbindung ist, wenn man bedenkt, daß die „Querdenker“ 2020 in Schwaben entstanden und sich die von ihnen organisierten Demonstrationen und Veranstaltungen durch eine so entschiedene Friedfertigkeit, Gewaltlosigkeit und Harmlosigkeit auszeichneten, daß man sie zunächst in esoterischen Schubladen zu verräumen suchte, bis sich endlich ein paar Freiwillige fanden, die sich mit einer Reichsflagge am Rand der sommerlichen Massendemo in Berlin photographieren ließen. Was man seither in der größeren Öffentlichkeit von „Querdenken 711“ gehört hat, läßt sich in zwei Zeilen zusammenfassen.

Aber das Phantom ist nun in der Welt und muß für alles herhalten, was sich nicht belegen läßt. Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa „berichtete“ über die ausgesprochen friedliche Demonstration auf der Ludwigstraße am vergangenen Mittwoch: „3.700 Menschen gehen in München auf die Straße – unter ihnen radikale Impfgegner und Verschwörungsgläubige. Ein beschämendes Schauspiel. Polizei und Stadt dürfen sie nicht einfach gewähren lassen – und  Demonstranten aus dem bürgerlichen Lager müssen sich distanzieren.“

Da hat jemand sein Handwerk ganz im Sinne der „Bayrischen Ostwacht“ gelernt: Mehr Hetze, Beschimpfung und mundschäumende Drohgebärde geht in ein paar Zeilen nicht hinein. Weiter erfahren wir: „Anfangs bleibt es recht friedlich.“ Wobei „anfangs“ bedeutet: während der Veranstaltung. Dann aber kommen die „Impfpflicht-Gegner“, „Pandemieleugner“ (die so ganz nebenbei als synonym „geframet“ werden) und „Anhänger von Verschwörungsideologien“ (wovon nach wie vor niemand sagen kann, was das eigentlich sein soll) ins Spiel: „Doch nach dem offiziellen Ende der Kundgebung eskaliert am Abend die Situation: Die Polizei kann nicht verhindern, daß bis zu 2.000 Corona-Leugner in mehreren zuvor verbotenen Demonstrationszügen Richtung Innenstadt ziehen, Parolen gegen eine ihrer Ansicht nach drohende ‚Diktatur‘ rufen und dabei eine umgedrehte Deutschlandflagge, ein Reichsbürgersymbol, schwenken.“

Ach so, die hätten wir ja fast vergessen: die „Reichsbürger“! die in mehreren „Zügen“ durch die Gegend „ziehen“ und dabei eine einzige Flagge „schwenken“! und die auch noch „umgedreht“!

(Übrigens wäre die neudeutsch-modische Zahlenangabe „bis zu“ auch ein paar Gedanken wert. Ein andermal.)

Ich täte meinen: So viel Haß macht unglaubwürdig. Allerdings sind mir (im Internet) Menschen begegnet, die den Quatsch ganz offensichtlich „glauben“ und nachplappern, ohne zu bemerken, was für ein Stuß das schon rein logisch ist. Die sich standhaft und stur weigern, darüber nachzudenken, Informationen, Fakten und abweichende Meinungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ich frage mich schon lange, wie es zu dieser psychischen Blockadehaltung kommen kann: daß jemand offenbar freiwillig die Realität vollkommen ausblendet und sich ohne Not in eine Phantasiewelt flüchtet, die doch überhaupt nichts Schönes, Erstrebenswertes oder Angenehmes zu bieten hat, sondern ein Reich des Schreckens ist, bevölkert von Monstren, mordlustigen „Querdenkern“ und Horrorgestalten.

Man kann sie nicht beneiden um ihren Verfolgungswahn. Man kann sie aber auch nicht wirklich bemitleiden, weil sie das alles ja freiwillig tun. Und weil es nicht nur bedrohlich, blöd und unheimlich ist, sondern auch richtig gefährlich. Und weil sie es hinterher ganz bestimmt nicht so gemeint haben werden. Wenn überhaupt.

Seltsamerweise muß ich bei dem ganzen Empörungstheater und -gezwitscher an die obskure, leider nirgendwo mehr nachweisbare Geschichte von „Petze-Petze-Plinchen“ denken, mit der man ABC-Schülern meiner Generation aus edlen historisch-moralischen Motiven heraus das Denunzieren austreiben wollte, ehe es Anfang der 70er Jahre von Lehrern, Direktoren und Hausmeistern als wünschenswerte Tugend wiedereingeführt wurde. Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht besonders empfindsam, weil mich der Spruch „Fräulein! Der Michi hat …!“ einige Jahre lang wie ein Fluch begleitete. Wer weiß.

Wie gesagt: „Friede, Freiheit, keine Diktatur!“ zu rufen ist nicht unbedingt komplex, differenziert und zielführend. Ein Viertel der Bevölkerung als „Verschwörungsideologienanhänger, Pandemieleugner, radikale Impfpflichtgegner, Verschwörungsgläubige, Coronaleugner, Reichsbürger, Querdenker, Schwurbler!“ usw. zu beschimpfen, ist aber ganz sicher das Gegenteil einer offenen, konstruktiven, friedlichen Haltung. So kommen wir aus dem Schlamassel ganz sicher nicht hinaus – fragt nach bei der „Bayrischen Ostwacht“.

3 Antworten auf „(periphere Notate): Keine Diktatur mit Petze-Plinchen?“

  1. Schöner Beitrag Michael, Danke!
    Scheint du bist keiner für die Straße, oder vielleicht doch nächsten Mittwoch, oana mehra…
    Magst du dein persönliches Verhältnis zur Straße (er-)klären…?

    1. “Du weißt es ist ernst, wenn die Introvertierten rauskommen”

      Das las ich diese Woche auf einem Pappschild. Ein Tropfen in meiner übervollen Regentonne. Und das motivierte mich gestern, mal wieder auf den Markplatz zu gehen. Vermutlich sind viele hier nicht so richtig “für die Straße” gemacht. Aber wen inspiriert schon meine Ein-Mensch-Demo im Wald?

      Also, raus auf den Rasen. Matschepampe.

  2. Ein Zufallstreffer (vgl.: vom Zeigefinger zurückweisende Finger)

    Tja, dass es Leute gibt:

    die den Quatsch ganz offensichtlich „glauben“ und nachplappern, ohne zu bemerken, was für ein Stuß das schon rein logisch ist. Die sich standhaft und stur weigern, darüber nachzudenken, Informationen, Fakten und abweichende Meinungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Ich frage mich schon lange, wie es zu dieser psychischen Blockadehaltung kommen kann.

    Das fragt man sich durchaus öfter nach dem Durchlesen der meisten Traktate u. Pampflete betr. Covid-19 ff, auf Sailers blog, und der Zustimmung, die er dafür aus dem Kreis der Unterstützer erntet…

    Wie jetzt wieder bei diesem völlig in Die Hose gegangenen, erneuten zwanghaften Nazivergleich (eingeschmissene Scheiben in der Oberpfalz 1934)

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