(periphere Notate:) Harmloser Holocaust?

Ein Freund (und nach ihm noch einer so ähnlich) hat mir nach Lektüre der gestrigen Notate vorgeworfen, ich sei „bereit, für eine pfiffige Propaganda bezüglich deiner Weltanschauung dich mit dem braunen Lager zu verbünden“. (Mit diesem „Lager“ ist offenbar die „Querdenkerbewegung“ gemeint.)

Hier hängt einiges schief. Zunächst ist zu fragen, ob es die ebenfalls unterstellte „Verharmlosung des Leids der Juden im dritten Reich“ überhaupt geben kann. Eine Verharmlosung wäre (analog zur Verschlimmerung) ein – wohl sprachlicher oder argumentativer – Akt, durch den die Vernichtung der Juden Europas harmloser würde. Einen solchen sprachlichen oder argumentativen Akt kann es aus naheliegenden Gründen nicht geben. Es gibt tatsächlich nichts, was den millionenfachen industriellen Mord (man bräuchte eigentlich ein stärkeres Wort, heute, da die Literatur zum größten Teil aus – zwinker! zwinker! – humorvoller bis pfiffiger Mordbelustigung besteht) an Menschen „harmloser“ machen könnte, und das ist sicherlich auch dem Freund klar.

Die Begriffsverwirrung ähnelt der „Entfremdung“, mit der auch nicht gemeint ist, daß jemand nach diesem Vorgang der Welt – analog etwa zur Entschleierung (die auch „Apokalypse“ heißt, übrigens) – weniger fremd wäre. Sondern das Gegenteil.

Gemeint ist/war in diesem Fall aber ein von mir gezeigtes Bild, das wiederum Sprache enthält, nämlich dieses:

Mit der Zeigung dieses Bilds in Zusammenhang mit der Erwähnung der neuen Maßnahmen zur „Corona-Bekämpfung“ (ein Bonmot eines Facebook-Bots, das ich zitieren muß, weil wir „Corona-Bekämpfung“ als Konzept und Anspruch so lange nicht mehr hatten und es in seiner absurd-dummen Widersinnigkeit so schön schillert wie zum Beispiel „Klima-Gegner“) sei ein Vergleich verbunden: des Leids der Juden im dritten Reich mit dem Leid der „Ungeimpften“ in Deutschland 2021 ff.

Nun weiß spätestens seit Herrn Gauweilers diesbezüglicher Richtigstellung eigentlich jeder, daß man vergleichen so gut wie alles mit allem kann: Äpfel mit Birnen, Covid-19 mit Grippe, Lauterbach mit Goebbels und den Holocaust mit dem Oktoberfest. Manchmal sind solche Vergleiche Quellen der Erkenntnis, oft nicht, manchmal tendieren sie zur Obszönität, und bisweilen kommt dabei nichts als purer Unfug heraus. Das liegt in der Natur des Vergleichsvorgangs: Salz schmeckt salzig, ein Apfel säuerlich, aber wie ein Faschismus schmeckt, ist eine Frage der Interpretation. Wer Deep Purple mit Led Zeppelin vergleicht, wird spätestens in der Disputation feststellen, daß er Deep Purple besser mit einer Maß Bier oder einem iranischen Oppositionspolitiker verglichen hätte; und wer den Holocaust mit irgendwas vergleicht, macht ihn dadurch nicht kleiner oder harmloser, sondern stellt mit jedem einzelnen Schritt erst fest, wie monströs, antimenschlich, kaputt und krank dieses ganze Unternehmen war. Nicht einmal der Vergleich der circa 60 Millionen Toten des zweiten Weltkriegs (inklusive Holocaust) mit den 130 oder 180 Millionen Hungertoten der „Corona“-Maßnahmen kann dies in irgendeiner Weise (außer numerisch) ändern: Beide Akte der Menschenvernichtung waren (oder sind) historisch und in sich so singulär, daß sie durch den Vergleich eher noch monströser werden (weil man gemeinsame Züge, aber auch Unterschiede und eine Entwicklung erkennt).

Was der Freund meinte, war eine Gleichsetzung des Vorgehens gegen die Juden mit dem Vorgehen gegen Ungeimpfte, was dazu führen könnte, daß man den Holocaust in seinem Ausmaß und seiner Bedeutung unterschätzt. Aber auch das ist ein Irrtum, weil es in dem gezeigten Bild um den Holocaust nicht geht. Der fing nicht 1938 an. Es lohnt sich, Victor Klemperers Tagebücher aus dieser Zeit mal wieder zu lesen, um die schleichende, lauernde Angst und Verzweiflung zu erahnen, die jüdische Bürger des damaligen deutschen Reichs angesichts der schleichenden, lauernden Veränderungen ihrer Lebenswelt empfanden. Es gibt keinen Grund, zu vermuten, daß „Ungeimpfte“ heute nicht eine gleiche schleichende, lauernde Angst empfinden: Was blüht uns da? Der einzige solche Grund wäre retrospektiv und gilt nicht. Wir wissen, was von 1941 bis 1945 geschah. Wir wissen nicht, was zum Beispiel von 2025 bis 2030 geschehen wird. 1914 hatte niemand eine Ahnung von Verdun, und Napoleon ahnte nichts von der Atombombe. Das macht nichts harmloser.

Apropos Unterschätzung beziehungsweise Verniedlichung: Selbstverständlich ist es – so verstanden – eine „Verharmlosung“ des Holocaust beziehungsweise der NSDAP, die „Querdenker“ (was immer man persönlich und aktuell darunter verstehen mag) mit einem „braunen Lager“ gleichzusetzen. Selbst die nazioiden Hampelmänner, die – anscheinend geheimdienstlich gesteuert – im August 2020 den Bundestag zu „stürmen“ angeblich versuchten und nicht das geringste mit der gleichzeitig stattfindenden „Querdenken“-Demonstration zu tun hatten (sondern eine eigene Demonstration angemeldet und offenbar ohne Verbotsversuche genehmigt bekommen hatten) mit der SA der frühen dreißiger Jahre gleichzusetzen, wäre eine Verhöhnung des Leids von deren Opfern.

Wo wir bei Klemperer sind oder waren: Anscheinend ist sein Standardwerk „LTI – Lingua Tertii Imperii“ heute keine Schullektüre mehr. Ich will nicht spekulieren, warum das so ist, ich empfehle lediglich jedem, dieses Buch alle drei bis fünf Jahre zu lesen und aufmerksam darauf zu achten, welche neuen Vokabeln, Redensarten, Sprechweisen, Phrasen und Schlagwörter sich heute über die Medien in die Alltagssprache schleichen, welche Begriffe neue Bedeutung erhalten und welche Wörter verschwinden. Die Frage nach Herkunft und Bedeutung des Begriffs „Querdenker“ ist ein ganz marginales Beispiel. Allein sich zu fragen, was eigentlich eine „Maßnahme“ ist, führt weiter.

Man streitet immer wieder über Platzhalter, Symbole und Begriffe. Das macht die Geschehnisse unsichtbar, es verschleiert sie. Was während „Corona“ in Deutschland wirklich geschehen ist, weiß niemand, weil es niemand gesehen hat – mitbekommen haben wir lediglich Abbildungen, Deutungen, Schlüsse, Auslegungen und Anweisungen. Kurz gesagt: Propaganda, zum historisch ersten Mal ganz ausschließlich. Das ist bei der Erderwärmung (die zwecks Verniedlichung seit Barack Obama „Klimawandel“ heißen muß, weil sich das harmloser, allgemeiner und natürlicher anhört) übrigens anders: Die kriegt zumindest zu einem gewissen Teil jeder mit – und wartet auf „Maßnahmen“, weil selbst denken niemand mehr kann und Demokratie (die gemeinsame Entscheidung über das weitere Vorgehen) längst durch „Governance“ (die im Wortsinn faschistische Befehlsgewalt von Kapital und politischer Herrschaft) ersetzt wurde.

Apropos Symbole: Ist schon mal jemandem aufgefallen, daß die als Schreckbild so oft herbeizitierten Bücherverbrennungen der Nazis pure Symbolpolitik und als solche fast noch lächerlicher als das derzeitige Getue der „Grünen“ waren? Was dabei herauskam, war nämlich: daß jedes der verbrannten Bücher fünf-, zehn-, tausendmal nachgedruckt wurde und heute wesentlich breiter, weiter und allgemeiner kursiert, zugänglich ist und in Regalen steht als irgendein Werk jener Autoren, denen etwas viel schlimmeres zustieß – die nämlich vergessen wurden? (Ihr solltet mal wieder Friedo Lampe lesen.)

Stadttauben gelten als „Ratten der Lüfte“ und sind ähnlich „unpopulär“ (per Dekret) wie „Coronagegner“. Ich mag Tauben fast so gern wie Enten. Kann sein, daß sie Dreck machen und Krankheiten verbreiten, aber das tut der Mensch auch, und zwar in einem Ausmaß, von dem Tauben (hoffentlich) nicht mal träumen müssen.

Der Unterschied ist: Menschen möchten Tauben „kontrollieren“, sterilisieren, vertreiben, hier und da ausrotten. Tauben freuen sich über Semmelbrösel, die eben diese Menschen ihnen hinwerfen.

(Dank an Lasse und Micha für anregende Gedanken.)

4 Antworten auf „(periphere Notate:) Harmloser Holocaust?“

  1. Wie wenn es heute geschrieben worden wäre (wurde zur Suche durch die Erwähnung von Klemperer hier animiert:

    https://www.the-american-interest.com/2020/01/12/victor-klemperer-and-the-decay-of-political-language/

    „Wie kann man das Gesamtbild sehen und diese Trends im Moment messen? Manchmal ist der Wandel plötzlich und dramatisch. Nicht selten jedoch vollzieht er sich allmählich, schrittweise und lässt sich nur schwer angemessen bewerten. Klemperers Leben und Werk sollten uns daran erinnern, dass die Verantwortung für die Sprache eine Pflicht ist, die für jeden gilt, und dass es keine Sünde ist, sich Sorgen zu machen – während Selbstzufriedenheit, zumindest unter bestimmten Umständen, in der Tat zu sehr dunklen Orten führen kann.“

    Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)

    Appeared in The American Interest: Volume 15, Number 4 | Published on: January 12, 2020
    Elisabeth Braw directs the Modern Deterrence program at the Royal United Services Institute (RUSI) and is the author of God’s Spies: The Stasi’s Cold War Espionage Campaign Inside the Church.

    1. Da legst di nieder bei den Thesen (ohne Quellen)

      Hier mal eine Zusammenfassung zu deinem „Artikel“ bzw was du aussagst:

      Bin überhaupt kein Nazi. Man weiß ja aber nicht ob man den Holocaust überhaupt verharmlosen kann. Weil sprachlich und so. Lieber bisschen Lächerlichkeiten, zwinkerzwinker! Erstmal Begriffsverwirrung aufklären weil bin ja Hobbygermanist. Dann eingehen auf das antisemitisch verwendete Bild, dabei wieder bisschen Sprachgeschwurbel, Corona, Klima, dies das. Aber hey, die Juden sind mir wichtig. Deshalb mal schön Gauland (fucking Gauland!) heranziehen als denjenigen der erklärt warum. Denn das tendiert hier alles zur Obszönität, weil Äpfel sind säuerlich oder so. Aber wie ein Faschismus schmeckt, ist eine Frage der Interpretation. Ähm, ja, da is sich die Politikwissenschaft natürlich einig. Dann geht’s um den Iran, oder doch Deep Purple? So jetzt aber Tacheles: Die Hungertoten durch Coronamaßnahmen sind dann doch der größere bzw. mindestens gleich große Holocaust, gemeinsame Züge zumindest. Zurück zum Bild: Dabei geht’s gar nicht um den Holocaust, weil der fing nämlich gar nicht 1938 an. Höhö, ihr dullies. Das hat nix miteinander zu tun! Es ging um die Verfolgung und so. Und wer weiß schon wer uns in ein paar Jahren verfolgt? Dann nochmal kurz Napoleon und Atombombe. Sturm auf Reichstag der Querdenker war geheimdienstlich gesteuert. Wieder Sprachgeschwurbel im leeren Raum. So, Grüne schlimmer als Nazis. Bücherverbrennung war gut. Der Mensch verbreitet Krankheiten. Wir sollen kontrolliert werden.

      What a ride

      Alter sind deine Graspflanzen verschlimmelt? Puh…

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