Wenn die Frühlingssonne ihre mittmärzliche Erkältung überstanden hat und endlich wieder ihrer naturbestimmten Tätigkeit nachgeht, gerät der Mensch in nostalgische Wallungen. Selbst in einer geschichtslosen Betonhalde wie München erinnert man sich dann glühenden Herzens an „damals“, wo (ebenfalls naturgemäß) „alles besser“ war.
Früher betraf das vor allem die Jugend, was ein relativer Begriff ist, weil das Entsinnen an „damals“ spätestens mit vierzehn begann: Wie gerne wäre man wieder in jenem verwehten Sommer des ersten bewußt erlebten Lagerfeuers, könnte noch einmal die Luft jenes Mainachmittags vor zwei Jahren atmen, als beim viel zu fernen Anblick eines bestimmten Augenpaars ein erster Federhauch von Verliebtheit die seelischen Gummibänder bis zur Überdehnung spannte!
Heute flutet ein Ozean von sehnsüchtigen Beschwörungen des seligen Vorvorjahres die Kanäle der Kommunikation, die nicht mehr unter Bäumen, am Biergartentisch, auf Spazierwegen, am Isarstrand, Kneipentresen oder sonstwo fließen, sondern ausschließlich als Endlosstrom von 1-0-Bleeps durch die Elektrowüste hinein in die Wohnzellen zu den vereinsamten Einzelwesen, die da drinnen zwischen Bildschirm und Display einem verschwendeten Jahr nachtrauern, dem inzwischen schon wieder ein verschwendetes Vierteljahr gefolgt ist.
#2019 ist der Hashtag aller Wunschträume – ach, könnte man dorthin zurück! Als man noch lachen konnte, ohne sich zu schämen, als man noch in fröhlichen Horden durch die Auen streifte, Kindergeburtstage feiern durfte (oder mußte), ohne Schwindelanfälle von der Stickschnabelkappe einkaufen ging, selbst in der U-Bahn hier und da ein fröhliches Lächeln sah, als die Wirtshäuser fröhlich tobten, die Diskotheken ekstatisch pulsierten, die müden Herzen in den Nachtbars gemütlich schwärmten, als die Welt leuchtete und Vergangenheit und Zukunft in einer strahlenden Gegenwart zusammenliefen wie das Sonnenlicht unter dem Brennglas.
Freilich: schön war damals vieles, wie das halt immer so ist. Aber das liegt zu einem nicht geringen Teil an einem psychologischen Zaubertrick, den das Hirn ganz ohne bewußtes Zutun vollführt und den man allgemein als „Mandela-Effekt“ (oder fachlicher „Konfabulation“) bezeichnet. Nämlich glauben viele Leute bis heute, Nelson Mandela sei in den achtziger Jahren als verurteilter Terrorist im Gefängnis gestorben. Von seinen fünf Jahren als Präsident wissen sie ebensowenig wie vom Friedensnobelpreis, den Streitereien mit Winnie und allen möglichen weiteren Begebenheiten aus den 23 Jahren, die er nach 27 Jahren Haft in Freiheit verbringen durfte.
Möglicherweise wird man dieses seltsame Phänomen in einigen Jahrzehnten als „Corona-Effekt“ bezeichnen, wenn dann immer noch genug starrköpfige Greise herumlaufen, sich bildlich an die Killerseuche erinnern, die 2020/21 die halbe Weltbevölkerung dahinraffte, und vorwitzige Schwurbelhistoriker, die ihnen Statistiken vorhalten, mit dem Gehwagerl verjagen. „Alesia? Ich kenne kein Alesia! Ich weiß nicht, wo Alesia liegt! Niemand weiß, wo Alesia liegt!“ (Um es mit Majestix zu sagen – wobei anzumerken bliebe, daß sich nicht wenige Asterix-Leser ganz deutlich erinnern, daß da „keine Alesia“ stand.)
Dieser Effekt erfaßt uns auch, wenn wir uns nach 2019 zurücksehnen. Denn vor dem US-Repo-Markt-Einbruch im September 2019, mit dem das begann, was die Medienposaunen heute alle zwei Minuten als „Coronakrise“ in die Welt tröten, vor der Konstruktion des „Chinavirus“-Mythos samt Tod und Test in kaum vier Wochen im Januar 2020, vor Lockdown, Lockstep, Great Reset und Inzidenz war die Welt so ungeheuer viel schöner, gemütlicher und idyllischer nun auch wieder nicht.
Schon damals wollten Staaten und Tech-Konzerne geradezu binge-eat-mäßig Daten sammeln und Menschen kontrollieren und Milliardäre die Zivilgesellschaft übernehmen oder zerschlagen, forderten Militärmaschinerien immer mehr Geld und Waffen, krebste der Kapitalismus auf dem letzten Stück Zahnfleisch durch die Ruinen seines Wahns, füllten sich die Wartezimmer der Psychotherapeuten, wurden alternative Medien als „rechtsoffene Verschwörungstheoretiker“ beschimpft, naive Idealisten für Kampagnen zugunsten des Finanzkapitals rekrutiert, dämmerten vereinsamte Senioren in industriell organisierten Sterbeheimen mit chronischem Personalabbau dahin, betonierten und asphaltierten „grüne“ „Klimaschützer“ die Landschaft zu, wollten Klaus Schwab und sein WEF die Menschheit in eine Armee von Robotern verwandeln, saß Karl Lauterbach in Talkshows herum und forderte den Abbau von Krankenhausbetten, war Jens Spahn Ministerdarsteller, Herr Drosten oberster Welt-Test-Virologe, Angela Merkel Kanzlerin, Söder unerträglich, und auch damals schon gewann der FC Bayern so gut wie alles, was es zu gewinnen gab, ohne sich mehr als grimmig darüber freuen zu können.
Wenn wir damals aufgepaßt hätten, anstatt uns dauernd in süßen Sehnsuchtsträumen von noch früher zu wiegen, wäre uns vielleicht aufgefallen, daß die Welt schon länger stinkt und am Untergehen ist und daß die, die von Gestank und Untergang profitieren wollen, nur noch auf einen Zünder warteten. Daß sie das, was dann völlig überraschend über uns hereinbrach, im Herbst 2019 schon mal bis ins Detail durchspielten und daß seither alles gar nicht so anders, sondern nur sehr schnell viel schlimmer geworden ist.
Und zweitens: Daß es ist, wie es ist, und daß es so, wie es ist, unerträglich ist, liegt nicht nur an denen, die daran schuld sind. Es liegt auch nicht an Umständen, Sachzwängen, Unvermeidlichkeiten, Alternativlosigkeiten und dem Gang der Dinge. Daß alle das tun, was „man“ halt tut, auch wenn es keiner tun will, liegt daran, daß jeder einzelne es tut. Wenn nämlich einzelne etwas anderes tun (zum Beispiel etwas Schönes), dann tun vielleicht viele einzelne was anderes, und irgendwann tut „man“ dann etwas Schönes.
Da könnte die Nostalgie helfen. Jeder, der mal jugendlich war und nicht an übermäßiger Gewöhnungsvergeßlichkeit leidet, sollte sich erinnern, daß Regeln dazu da sind, gebrochen zu werden, und daß man das, was einen kaputtmacht, am besten kaputtmacht.
Und ganz (oder weitgehend) ohne jugendlichen Übermut hat es auch im erwachsenen Alter wenig Zweck, zu grummeln und zu klagen, daß man dies und das nicht darf. Sinnvoller ist es, erst mal zu fragen, wieso man dies und das eigentlich nicht darf. Stellt sich dann heraus, daß die Begründung ein unhaltbarer Schmarrn ist, dann wird das mit dem Dürfen eine wackelige Sache – man könnte das, was man angeblich nicht darf, ja einfach mal tun.
Man kann den Computer ausstecken, wenn er einem bloß noch unzumutbaren Zahlensalat ins Gesicht schüttet. Man kann die Zeitung ungelesen in den Ofen schmeißen und die überall herumstehenden Befehlsverkündungskästen abschalten, indem man schon wegschaut, wenn die Schlagzeilen und Reklamebefehle noch gar nicht lesbar sind. Man kann den Fernseher zum Wertstoffhof bringen, wenn die Dauerpenetration mit Horrorkaspern wie Lauterbach, Brinkmann, Drosten, Merkel usw. das Hirn in Sülze und das Leben in eine Folter verwandelt.
Man kann sogar Politiker davonjagen, wenn sie dem Wahn verfallen, sie seien vordemokratische Herrscher und Grundrechte eine Gnade für brave Buckler. Manchmal braucht es nur einen Knopfdruck, und schon sind die fürchterlichen Gestalten und Ideen, mit denen man notgedrungen Tag um Tag verbracht hat, nicht mal mehr Schemen in einem Alptraum, sondern ganz einfach weg. Als hätte es sie nie gegeben.
Möglicherweise kommt dann hinter den erloschenen Flimmerschirmen und Flackerdisplays eine Welt hervor, die noch viel besser und schöner ist als in den schimmerndsten nostalgischen Sehnsuchtsträumen von einem Irgendwann, das es wahrscheinlich sowieso nie gegeben hat.
Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Seitdem kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, verboten sind. Daher gibt es die „Belästigungen“ bis auf weiteres nur hier (und auf der In-München-Seite).
(Diese Folge erschien in dem ausnahmsweise auf Papier gedruckten Heft Nr. 4 – bitte an/in Kiosken und den wenigen Läden, die noch öffnen dürfen, danach fragen.)