Belästigungen 23/2020: Den Krieg gewinnen am Ende immer die Nazis (oder?) (eine Abschweifung ohne Anlaß)

Wann die Nazis den zweiten Weltkrieg gewonnen haben, ist schwer zu sagen. War das 1984, als  Michael Jackson mit „Thriller“ zum größten Popstar aller Zeiten wurde? Oder war es 1991, als die Sowjetunion unterging und mit ihr die Idee von Gleichheit, Solidarität und Befreiung von Ausbeutung durch das Kapital selbst als jahrzehntelang massenhaft pervertierte utopische Möglichkeit aus der Welt verschwand?

Klar, die Deutschen hatten den Krieg schon lange vorher gewonnen, Anfang der fünfziger Jahre, als das „Wirtschaftswunder“ begann, als alles, was in Deutschland kaputt war, in Stahlbeton und Plastik runderneuert wurde, als man die Ärmel wieder hochkrempelte, ein paar tüchtige Männer mit günstigen Voraussetzungen und geschultem Geschäftssinn plötzlich riesig reich wurden und die gerade noch hungernden Massen, die den Reichtum erschufteten, das Gefühl vermittelt bekamen, sie würden dadurch ebenfalls reich, ideell irgendwie.

Da saßen zum Beispiel die Briten noch in ihren Vorkriegshäusern, die die Deutschen nicht komplett kaputtgekriegt hatten, die jetzt aber bröselten. Während sich die scheinbar besiegten Nazis in einen jubelnden Massenkarneval von Aufschwungdemokraten verwandelten, die von der Vernichtung der europäischen Juden überhaupt gar nichts gewußt und dem Führer nur gezwungenermaßen zugejubelt hatten, knirschten die Franzosen mit den Zähnen und grummelten die Italiener, die ihren Duce immerhin, wenn auch spät, selbst beseitigt hatten und nun neidvoll die germanischen Touristen bestaunten, die ein Jahrzehnt zuvor noch in Uniformen mordend durch ihr Land marschiert waren.

Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, die Geschichte der Menschheit nach Indizien für Gerechtigkeit zu durchwühlen – da kommt nur heraus, daß der Sieg des einen auf lange Sicht immer der Sieg des anderen ist, und sei es in Form der Ideen und Geisteszustände, die sich von den vermeintlich Besiegten auf ihre Bezwinger übertragen oder durch die Hintertür der ideologischen Zwangsläufigkeit wieder in das Haus hineinschlüpfen, zu dessen Vordertür man sie gerade erst hinausgekehrt hat.

Das kann die Sowjetunion bezeugen, die mit einem historisch beispiellosen Opfer an Menschenleben und Lebensgrundlagen den Nazifaschismus niedergerungen hatte, dann aber zuschauen mußte, wie andere die Früchte ernteten, während man selbst vor einem Haufen demontiertem Schrott stand oder vielmehr kauerte und außer einem entfesselten diktatorischen Massenschlächter auch noch einen deutschen Drittelstaat am Hals hatte, mit dem wenig anzufangen war, den man aber nicht wieder loswurde.

Wie nachhaltig wirksam die Verluste, Belastungen, Entbehrungen und Defizite waren, zeigte sich wiederum erst, als zaghafte Zeichen großer Hoffnungen am Horizont zu erscheinen schienen und der ganze Laden im scheinbaren Schein dieser Hoffnungen endlich doch kollabierte, um hinterher von denen ausgeweidet zu werden, denen man sich einst verbündet geglaubt hatte. So erledigte Boris Jelzin, ohne es zu bemerken (wie wir zu seinen Gunsten annehmen wollen), den Job, für den sich 1945 die Reste des nazideutschen Militäradels den USA angedient hatten und zu diesem Zweck 1944 gar versucht hatten, ihren eigenen Führer wegzubomben.

Michael Jackson ist ein Beispiel, auf das man nicht gleich kommt. Dazu muß man ein bißchen tiefer hinein in das sumpfige Dschungelgestrüpp der Geistes- oder vielmehr Ungeistgeschichte. Daß Hitler (laut David Bowie) der erste Popstar und Jackson damit sein bis dahin erfolgreichster Nachfolger gewesen sei, wäre ein etwas plumper Gedanke. Wichtiger ist, was man unter dem Begriff „Totalitarismus“ versteht: Der bedeutete bei den Nazis nicht etwa die vollständige bürokratische Kontrolle des Gemeinwesens bis zum letzten Zehennagel. Da durfte vielmehr ruhig so einiges zerlumpen und verwahrlosen, wurden allüberall Instanzen beseitigt und durch das Gutdünken trotteliger Einzeldespoten ersetzt.

Worum es ging, war: das gesamte Leben zwischen Alltag und Hochkultur so komplett mit Hitler zu füllen, daß für anderes kein Platz mehr blieb und ein Gedanke, in dem der Führer nicht vorkam, schlichtweg nicht denkbar war. Die Umsetzung dieser popkulturellen Idee gelang den Nazis zu ihrer Zeit ansatzweise, aber nicht so ganz.

Woran das lag, ist schwer zu sagen. Zweifellos war der Hitler häßlich, seine Hits so wenig ohrwurmtauglich, daß man viele Leute förmlich zwingen mußte, sie anzuhören, und sich wunderte, wie es ihm trotzdem gelingen konnte, zum erfolgreichsten deutschen Feldherrn und Herrscher über so gut wie ganz Europa zu avancieren. Vielleicht lag’s an den widerwärtigen Details der Show, den fauligen Zähnen, vielleicht auch am mangelnden Gespür des Managements oder seiner eigenen Dummheit, mit der er sich allen Ratschlägen widersetzte und darauf bestand, auf dem Höhepunkt seiner Karriere (im Sommer 1941) selbige mutwillig kaputtzumachen, indem er ein völlig irrwitziges neues Projekt in Angriff nahm, an dem er sich zwangsläufig überhob.

Die Nachwelt darf bis heute froh sein, daß es so und nicht noch schlimmer kam; aber die Idee war damit nicht aus der Welt. Verschiedene Leute versuchten sich nach dem Krieg daran, sie in anderer Form doch noch umzusetzen, alle vergeblich.

Bis 1984. Ausgerechnet in dem Jahr, dem viele seit langem entgegengezittert hatten, weil sie Orwells berühmten Roman gelesen und einigermaßen mißverstanden hatten, war die Welt, die man kannte, plötzlich eine andere. Zeugen Jehovas feierten die Wiederkehr des Erzengels Michael, US-Konzerne erklärten sich erstmals bereit, den Mindestlohn ihrer mexikanischen Sklaven zu erhöhen, indem sie ihnen als Bonus Michael-Jackson-Platten überreichten. Michael Jackson war 1984 kein Popstar mehr, auch weder Führer noch Gott, sondern alles zusammen und als Summe noch mehr: Er war, als Verkörperung und Inbegriff der Totalität, nicht weniger als die Welt selbst.

Und das hieß: Er erfüllte jeden einzelnen, anders als das je ein (ehemaliger) Mensch getan hatte. Man kaufte Schallplatten, Videos, Poster, Klamotten, Bücher, Zeitschriften, Anstecker, Ohrringe, Schlüsselanhänger, Hüte, Handschuhe, Sonnenbrillen, trank ganztägig Pepsi, man schminkte sich, setzte Perücken auf, ließ sich kosmetisch operieren, veränderte mit innovativen Geräten die Stimme … Aber all das war ein normaler Teil des Pop-Götzendienstes, den man seit Elvis Presley mit wachsendem Brimborium und unterschiedlich intensiv nachgestellten Rollenmodellen gewöhnt war.

Der Jackson-Fan tat mehr als das: Er wurde durch sein Konsumverhalten nicht nur Teil der Gemeinde, sondern konsumierte seine eigenen Konsumgesten als Teil der von der Jackson-Industrie geschaffenen Identitätsware. Das heißt: Er verzehrte sich selbst in einem Akt der Kommunion, wie ihn bis dahin nur die katholische Kirche gekannt hatte.

Davon, das darf man mit Fug und Recht annehmen, hatte Hitler geträumt. Und mit der vollkommenen Welt- und Selbstvergessenheit, die Jackson-Jünger an den Tag legten, mit ihrer rückhaltlosen Hingabe an ein sinnleeres Ideal, das sich in purem Konsum erschöpfte, verwirklichte sich die Vision der Nazis, die vierzig Jahre zuvor Gott sei Dank an der sowjetischen Armee gescheitert war, auf andere, weniger mörderische, dafür um so massenwirksamere Weise.

Gescheitert ist Jackson übrigens auf ähnliche Weise wie Hitler – er verhob sich an einem neuen Projekt, das über „Thriller“ hinausgehen sollte. Dieses Projekt bestand darin, den bis dahin leiblosen, rein virtuellen Messias zum Leben zu erwecken und zu den Menschen zu bringen, auf daß sein Segen die Bevölkerung des ganzen Planeten entflamme und zur Transzendenz erhebe.

Leider (oder glücklicherweise) war Jackson halt letztlich doch irgendwie noch ein Mensch und als solcher in Kalamitäten verstrickt, die einem himmlischen Erlöser schlicht zu irdisch waren, um sie mit seiner Magie zu beherrschen. Zuallererst wollte er das schon gar nicht – auf Tournee gehen, ließ sich aber vom Vater, der ihn in seine Karriere ja überhaupt erst hineingeprügelt hatte, und den im Schatten seiner Ruhmglorie versunkenen Brüdern zwingen.

Dafür legte er die Hürden hoch: verlangte 40 Millionen Dollar Festgage und 30 Dollar Eintritt (worüber Unternehmen wie U2 und selbst Coldplay heute nur müde lächeln, aber hey! – es war 1984, da gab es nicht mal ein Hundertstel der heutigen Milliardäre, ihr Gesamtvermögen entsprach dem aktuellen Monatseinkommen von Jeff Bezos, und eine Konzertkarte kostete höchstens 15 Mark). Vergeben werden sollten die Karten in einer Art Verlosung: Wer dabei sein wollte (wo auch immer, die Stationen der Tour standen noch nicht fest), mußte 120 Dollar für die Option auf vier Tickets bezahlen, auf die er angesichts der vulkanischen Nachfrage eine Chance von eins zu zehn hatte. Wer leer ausging, sollte immerhin sein Geld (abzüglich Bearbeitungsgebühr) zurückbekommen, nachdem der Jackson-Konzern drei Monate lang Zinsen dafür kassiert hatte (insgesamt ca. 12 Millionen Dollar).

Und hier lag ein erster verhängnisvoller Denkfehler: Ein großer Teil der Jackson-Jünger gehörte nicht der sozialen Klasse an, die mal eben 120 Dollar für ein Konzert hinblättert. Diejenigen, die schon dadurch plötzlich mit den finanziellen Grenzen ihrer Chance auf religiöse Erlösung durch den leibhaftig gegenwärtigen Messias konfrontiert wurden, bekamen zugleich ein Stück Realität um die Ohren gehauen: Es gibt auf dieser Welt zwar von allem genug für alle, aber einen Anteil kriegst du nur, wenn du zahlen kannst.

Die erhoffte Zeitenwende, die Erweckung des befreienden Welt-Spirits durch eine Art Plastik-R&B-Pfingsten, blieb indes auch für die anderen aus. Anders als etwa bei den Beatles, den Stones, bei Elvis, den Sex Pistols, The Clash oder auch nur Grand Funk Railroad gab es für die geschröpften Zuschauermassen bei den Jackson-Auftritten nicht viel zu tun – hier wurden keine politischen, keine sexuellen, noch nicht mal die üblichen vorgeschobenen Generationskonflikte definiert oder ausgetragen, sondern gar nichts.

Die Jackson-Brüder hampelten ihre einstudierten, bedeutungslosen Beeindruckungschoreographien herunter, dazu ertönte Kunststoffmusik, die jeder Anwesende in- und auswendig kannte – von dem vier Tage vor dem ersten Auftritt erschienenen Jacksons-Album, nach dem die Tour benannt war, wurde kein Ton „performt“. „Gespielt“ wurde zwar (offiziell von sechs echten Musikern), aber das fiel weder auf noch ins Gewicht. Obwohl die Tour einen neuen Weltrekord im Abkassieren aufstellte, fielen ein paar Gigs wegen schleppender Ticketverkäufe aus. Der Veranstalter zahlte am Ende Millionen drauf, Jackson spendete seinen Gagenanteil irgendwelchen Stiftungen und sagte die Eroberung von Europa und Australien von der Bühne aus ab.

Ach so, der Titel der Tournee war übrigens „Victory“. Ursprünglich sollte sie „Final Victory“ heißen: „Endsieg“.

Freilich: ist es gewagt und unfair, Michael Jackson mit Hitler zu vergleichen. Darum ging es mir auch nicht. Wofür Hitler stand und was er zu bieten hatte, war jedoch in seinen „besten“ (d. h.: erfolgreichsten) Zeiten nur dies: Stärke, Kraft, Erfolg und Sieg. Unter der blendenden Schicht fand sich jedoch nur dies: eine unendlich tiefe Leere, ein Schwarzes Loch aus komprimiertem Nichts, das sich, als die strahlende Oberfläche riß und zerfiel, in Form von perversem Haß und entfesselter Gewalt über ganze Länder ergoß.

Daß dieselbe Ideologie der Leere nach dem verlorenen Krieg auferstand und abseits der weiterhin tobenden Schlachtfelder erneut strahlende Triumphe des bodenlosen Nichts feierte, die im „Endsieg“ von 1984 gipfelten, ist nicht Michael Jacksons Schuld und noch nicht mal die der Leute, die die Fäden zogen, an denen er hing wie eine deplazierte, tragisch-peinliche Harlekinpuppe. Michail Gorbatschow konnte auch nichts dafür, daß er 45 Jahre nach Stalins vermeintlichem Sieg die sowjetische Niederlage eingestehen und akzeptieren mußte.

Es ist aber bisweilen angeraten, die Geschichte der menschlichen Irrungen von dem her zu betrachten, was auf lange Sicht herauskommt. Vielleicht läßt sich daraus etwas lernen, zumindest dies: Alles ist vorläufig und wird vergehen. Und wenn es tatsächlich so ist, daß den Krieg immer die Nazis gewinnen, dann könnte man vielleicht mal probieren, ihn gar nicht erst zu führen, diesen Krieg. Wie das geht? Gute Frage, einstweilen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die meisten Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, verboten sind. Daher gibt es die Kolumne bis auf weiteres nur hier (und auf der In-München-Seite).

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