Belästigungen 18/2020: Jetzt ist das so, wie es nie mehr sein wird und wie es nie mehr so sein wird, wie es war (ein Zeitbild aus einer zeitlosen Welt)

Ein ganz normaler Spätsommermontagabend in Zeiten anschwellender Totalitarität. Während draußen die heiße Luft um die Betonzinken wabert, sitze ich drinnen, weil es draußen nichts zu sehen, nichts zu tun und nichts zu erleben gibt.

„Corona immer schlimmer!“ brüllt der sogenannte Ministerpräsident aus der Zeitung; da macht man lieber die Tür zu. Weil man nicht gern zuhört, wenn ein Hysteriker sich selbst zu hypnotisieren versucht, indem er alle anderen hypnotisiert. Das weckt in Deutschland wenig angenehme Assoziationen. Am Ende wünscht man sich den Strauß zurück.

Der hat über sein staatsmännisches Treiben (wenn schon nicht über den Rest) wie jeder Staatsmann dieser Welt wenigstens Akten geführt oder führen lassen und nicht wie der Söder aufgrund von Zeitungsberichten und Plaudereien Entscheidungen getroffen, die Millionen Menschen das Leben oder wenigstens den Sommer ruinieren, und hinterher wie ein verrücktgewordener Jahrmarktschreier die „Gefahrensituation“ beschworen, die sich nun nicht mehr rekonstruieren läßt, weil der Söder halt keine Akten führt und auch nicht führen läßt. Deswegen muß er jetzt übrigens als Zeuge vor Gericht. Weil es das in den letzten tausend Jahren nicht gegeben hat, daß ein Regierungschef Entscheidungen trifft und dazu keine Akten existieren. Ach, diese Bayern! Man möchte am liebsten nicht dazugehören.

Ich „bin“ derweil im Internet, wo mal wieder (wie andauernd) dies und das erwogen wird: Waren es 20.000 oder hunderttausende oder 1,3 Millionen Impfbürger und Rechtsnazis, die am 1. August in Berlin gegen „Alltagsmasken“ demonstriert und „krude Verschwörungstheorien“ zum besten gegeben, nein: „geschwurbelt“ haben?

„Wenn es nur 20.000 waren, wen kümmert’s dann?“ fragt der eine.

„Diese verdammten EGOISTEN gefährden MEINE GESUNDHEIT!“ plärrt die andere.

„Aber du bist doch in Köln?“

„Na und? Ich bin weltoffen! Und ich lasse mir nicht von Nazis meine Karriere zerstören!“

„Recht hast du! Trump muß auch weg!“

„Der ist sowieso das letzte! Der soll ja neulich behauptet haben …“

Vorsichtshalber schalte ich alle drei für dreißig Tage auf „Snooze“. Vorsichtshalber schalte ich auch gleich die fünfhundert „Freunde“ auf „Snooze“, die derzeit ihre Tage damit zubringen, sämtliche freien Stellen auf Facebook mit Vokabeln wie „5G“, „Schwurbler!“, „Covidioten!“, „Aluhut!“, „Chemtrails!“, „Qanon!“ und so weiter zu tapezieren. Man möchte von solchen Leuten nicht zum Essen eingeladen werden, wenn sie da dann auch Kartoffeln, Brezen, Erdbeereis, Bohnen, Schießpulver, Fische, Spinnen, Unterhosen, Schuhcreme, Teller, Gläser und Besteck in einen Topf schmeißen und umrühren.

Einer hat mich gestern „Reisbürger“ genannt und das sicher böse gemeint. Offenbar gelingt ihm das mit dem Bösesein aber nicht richtig, drum schalte ich ihn vorläufig nicht für 30 Tage auf „Snooze“. Das heißt übrigens „Nickerchen“, aber ein solches machen die Gesnoozten in den nächsten dreißig Tagen ganz bestimmt nicht. Immerhin: muß ich mir den Schmarrn erst mal nicht mehr anschauen und mich nach dem dritten Bier verleiten lassen, „Ruhe!“ dazwischenzukrähen. Oder schlimmeres. Sonst fliege ich mal wieder raus aus der medialen Gesellschaft.

Da schreibt mir ein alter Freund: „Schon gehört von diesem Kabarettisten, Florian Schroeder, der den Corona-Prollpöbel vorgeführt hat? Geil!“

Der nächste Freund: „Schon gehört von dieser Kabarettistin, Lisa Eckhard, die den Promibetroffenheits-Betriebspöbel vorgeführt hat? Geil!“

Rückfrage. Antwort: Na ja, er ist jetzt ein Held (zumindest für die „Süddeutsche“ und ein paar andere schlichte Leute, die ihre Welt gerne mit Helden dekorieren), sie ein Nazi (zumindest für Leute, die ihre Welt gerne mit Nazis dekorieren). Such dir deine Feinde lieber vorher sorgfältig aus! „Aber mach da doch mal was zu!“

Nein, „da“ mache ich nichts „zu“, höchstens den Bildschirm, weil ich schon seit sehr langer Zeit der Meinung bin: Wenn Menschen lauthals über vollkommenen Schwachsinn streiten (und noch dazu ALLE über genau denselben Schwachsinn), schleicht man sich am besten unauffällig davon und beschäftigt sich mit etwas ganz anderem.

Es ist jedoch (oder nämlich) jedem Menschen die Neigung zum faschistischen Furor sozusagen angeboren: Da muß ein Feind identifiziert und mit stetig zunehmender Brutalität bekämpft und vernichtet werden – und wenn man merkt, daß der Kampf aussichtslos und niemals zu gewinnen ist, dann gilt das erst recht. Lieber geht man notfalls selber unter und reißt die ganze Welt in den Abgrund, als auch nur einen Gedanken ans Aufgeben, Arrangieren, Koexistieren oder ähnlich defaitistisches Zeug zu verschwenden.

Das hat der Deutsche von 1933 bis 1945 exemplarisch vorgeführt, derzeit führt er es als Farce noch einmal vor. Aber abseits der Weltpolitik führe ich das selber immer dann vor und mir ins Bewußtsein, wenn ich in meinem Garten einer Nacktschnecke begegne. Dann geht der Feldzug los, der sich stracks zum totalen Krieg ausweitet, und mein grundsätzlicher Ekel vor jedem Krieg – sei es gegen Rauschgift, den „Terror“ oder irgendein „Regime“ (d. h. die Bevölkerung um dieses „Regime“ herum) verpufft in einem haltlosen Furor, den ich mit Gewalt bremsen muß, um nicht die Nacktschnecke im ganzen Münchner Norden auszurotten und selbst zum Söder zu werden.

Derweil ich das schreibe, beschimpfen sich auf Facebook Menschen, die sich letztes Jahr noch spätnachts am Tresen lallend in den Armen lagen, ohne einen Schimmer von der „Meinung“ des jeweils anderen zu „Corona“. Zwischendrin die trostlose Nachricht eines befreundeten Kleinkünstlers, er sei jetzt kein Kleinkünstler mehr, weil es das nicht mehr gebe. Die Lücke fülle jetzt das Fernsehen mit seinen maskierten Durchhalteshows, und er könne sowieso nicht mehr verreisen, weil Hartz IV.

Tage vergehen, alles bleibt gleich: die Angst, die Hysterie, die Beschimpfungen, die zunehmend automatisch wirken, wie von Maschinen erzeugt, ein Meer von Wortmüll, das aus dem Weltall betrachtet vielleicht aussieht wie ein Getreidefeld. Wenn man das ohnmächtige Gerangel aus genügend weiter Entfernung betrachtet, wirkt es plötzlich recht friedlich.

Derweil demonstrieren in Berlin schon wieder hunderttausende Menschen für ihre Grundrechte und dies und das (Pippi Langstrumpf, Techno, mittelständische Betriebe, Meditation, Blumen, irgendwas mit Liebe, Kinder und frische Luft), während einen halben Kilometer weiter ein Trupp geisteskranker Nazis den Bundestag zu stürmen versucht und laut Plan von drei (3) Polizisten daran gehindert werden soll. Die Nazi-Inszenierung ist seit Wochen angekündigt, aber noch am Tag danach weiß das Bundesinnenministerium auf der Bundespressekonferenz nicht so genau, ob das jetzt bekannt war (eher schon) und angemeldet (ja, von einem notorischen Nazi) und verboten wie die Großdemo (nö) oder genehmigt (eher auf jeden Fall) und ob man damit gerechnet hat (auf keinen Fall) und welche Polizei denn dafür zuständig gewesen wäre (keine Ahnung) und ob da V-Leute der diversen Geheimdienste dabeigewesen sind (selbstverständlich).

„Ach, Deutschland“, sagt einer, „da können die Rechten doch sowieso tun, was sie wollen!“ Mit einem erinnernden Blick auf die deutsche Geschichte zum Beispiel der Jahre 1980 bis 2020 und das in dieser Epoche zuständige politische Personal fällt mir kein Widerspruch ein.

Derweil werden auf der anderen, der großen Demonstration Menschen mißhandelt, verletzt, zusammengeschlagen, getreten und unter Prügeln weggeschleppt.

„Das sind alles Rechte!“ schreit derselbe eine. Auf die Gegenfrage, wieso die nicht tun können, was sie wollen, wo sie doch Rechte sind und Rechte in Deutschland tun können, was sie wollen, weiß er keine Antwort. Gibt es neuerdings zwei Sorten von Rechten? Und waren nicht gerade noch „die Bullen“ auch rechts, durch und durch? Und jetzt foltern sie ihre Gesinnungsgenossen? Da kenne sich einer aus.

Draußen ist der Himmel gelbgrau schwanger, der Sommer vorbei. Zweckfamilien schieben Lastwagen mit Doppel- bis Dreifachnachwuchs durch den Englischen Garten und fühlen sich im Recht, wenn Spaziergänger ins Gebüsch ausweichen müssen. Schließlich sind sie die deutsche Zukunft. Man redet nicht, dabei könnten sich Aerosole bilden. Nur die Krähen unter den Bleiwolken krähen schadenfroh über die lächerlichen Zweibeiner da drunten, die sich nicht mehr nur gegenseitig, sondern seit einiger Zeit auch selber quälen, ohne irgendwann mal nachzudenken, warum sie das tun und wozu.

Die „Pandemie“, von der die „Welt“ (nicht die gleichnamige Zeitung, sondern alle Zeitungen und sonstigen Medien) spricht, ist eine etwas vage Erinnerung. Das war im späten Winter, jetzt ist Herbst. Seitdem sind Frühling und Sommer vergangen – seltsam schnell, es konnte sich ja nichts ereignen außer maskierten Angstblicken, denen man sich entzog, weil sie so furchtbar deprimierend ausschauen, besonders bei alten Menschen, die sowieso kaum Luft kriegen. Jetzt schleppen sie sich einsam durch dunkelgraue Betonschluchten, schnaufen den eigenen Röchelschleim wieder und wieder ein und fragen sich vielleicht (man sieht die Augen kaum), wie sie je auf die Idee kommen konnten, möglichst lange leben zu wollen.

Die Jüngeren, die wissen das: um der Wirtschaft zu dienen! um Deutschland voranzubringen! Deren Augen sieht man: Sie haben gelernt, ihren Zorn und Eifer so unbedingt auf diese zwei glanzlosen Kugeln zu konzentrieren, daß sie zu Waffen werden gegen die Schädlinge. Als hätten sie darüber hinaus nie ein Gesicht gehabt.

Wo ist alles hin? Man lacht entschuldigend, als meinte man, was einem zwischendurch rausrutscht, nicht so ganz ernst. Man sagt sowieso lieber nicht mehr viel, höchstens mit ironischem Beiklang: nicht so gemeint, weißt eh. Sorry. Der letzte Todesfall an oder wegen Covid-19 in Deutschland war am … hm, im … na ja, irgendwann oder streng genommen vielleicht nie, man weiß es nicht. Man fragt sich, ob man es je erfahren wird, ob man es wissen will. Irgendein Millionenpromi schmeckt angeblich seit Wochen vierzig Prozent weniger; stimmt das? Man weiß es nicht, auch das. Parlamente: Wird es die irgendwann wieder geben? Die offiziellen Stellen der exekutierenden Macht schweigen mittlerweile die meiste Zeit, befehlen nur sporadisch düster, man dürfe nichts und niemals hinterfragen. Selbst der Söder läßt die Anordnung, Kinder müßten sich jetzt auch im Unterricht vermummen, von anderen überbringen. Immerhin: er bellt nicht mehr so laut.

Das kann aber auch heißen, daß er bald wieder beißt. Wenn ihn wieder diese furchtbare Furcht packt, vor was auch immer. Akten wird es auch dann nicht geben.

Es ist September. Leben wir noch?

„We shall live again.“ (Patti Smith)

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil alle Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund der Auftrittsverbote für Bühnenkünstler abgesagt wurden. Daher gibt es die Kolumne vorübergehend nur hier (und auf der In-München-Seite).

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