Wenn es Abend wird im sommerlichen Garten, schwirren die Schwirrfliegen los. Wie die Wilden schwirren sie los, und je weiter die Sonne Richtung Baumwipfel sinkt, desto wilder wird ihr Geschwirr. Vermutlich denken sie: Wenn wir nur wild genug schwirren, sinkt die Sonne langsamer, und wenn wir noch viel wilder und immer wilder schwirren, dann wird sie eines Tages stehenbleiben oder sogar wieder nach oben steigen und der Sommertag wird ewig sein.
Jetzt mag einer sagen: Fliegen denken doch nicht! Denken können nur Menschen und höchstens noch Krähen! Aha! sage ich, und woher weiß man das? Das wilde Schwirren ist ohne Denken ebenso wenig schlüssig zu erklären wie neunundneunzig Prozent des tierischen Verhaltens.
Das heißt: ohne magisches Denken. Das ist ja auch schlüssig: Ganz offensichtlich nämlich geht die Sonne an manchen Sommerabenden ziemlich langsam unter. Wer weiß, ob das nicht am wilden Geschwirr der Schwirrfliegen liegt? Wenn sie weniger wild schwirren täten, ginge es vielleicht so schnell wie an manchen Winterabenden; vielleicht bliebe es insgesamt dunkel. Das ist logisch, zumindest wenn man magisch denkt, was Schwirrfliegen offensichtlich tun.
Der oberste Gesundheitspriester der Bundesrepublik Deutschland und irgendwie der Welt, der Herr Drosten, verkündete neulich, ohne „die Maßnahmen“ (die ich im einzelnen sicher nicht mehr erläutern muß) hätten wir „in Deutschland jetzt 50.000 bis 100.000 Tote mehr“. Auch das ist ein typisches Beispiel für magisches Denken. Schließlich haben wir die 100.000 Toten ja nicht, ebensowenig wie den winterlichen Sonnenuntergang im Frühsommer, und damit ist der Beweis erbracht.
Magisches Denken ist laut Lexikonblog „eine Erscheinungsform der kindlichen Entwicklung, bei der eine Person annimmt, daß ihre Gedanken, Worte oder Handlungen Einfluß auf ursächlich nicht verbundene Ereignisse nehmen, solche hervorrufen oder verhindern können. Herkömmliche Regeln von Ursache und Wirkung werden ignoriert.“ Das ist ausnahmsweise nicht ganz falsch. Allerdings erleben wir derzeit eine Epochenwende, in der das magische Denken wie eine Pandemie in exponentieller Weise immer größere Teile der Menschheit erfaßt und inzwischen so allgegenwärtig ist, daß es nur noch auffällt, wenn einer davon abweicht.
Früher war das umgekehrt. Wenn da einer behauptete, er dürfe beim Spazieren keinesfalls in die Mitte eines Pflastersteins treten oder es bringe Glück, wenn man einen Pfennig findet oder eine schwarze Katze höflich grüßt oder zufällig auf die Uhr schaut, wenn es auf die Sekunde zwölf ist, dann hielt man den für wunderlich. Magisches Denken war zwar verbreiteter, als man gemeinhin dachte, aber insgeheim schämte man sich dafür und befolgte die daraus entspringenden Verhaltensmaßregeln (nicht unter einer Leiter durchgehen! Nie mit dem linken Fuß aufstehen!) eher insgeheim.
Öffentlich dachte man rational und aufgeklärt. Es galt das bekannte „Rasiermesser“ des Philosophen Ockham, demzufolge unter mehreren Theorien zur Erklärung eines Sachverhalts stets die einfachste vorzuziehen ist: Wenn ein Apfel vom Baum fällt, tut er das nicht deshalb, weil der Baumbesitzer verschiedenfarbige Strümpfe trägt oder seinen Nachbarn morgens über Kreuz die Hände geschüttelt hat. Sondern weil unten nun mal unten ist und man da gefälligst hinfällt, wenn einen der Baum nicht mehr trägt. (Fragen Sie Herrn Newton: Dem fiel der Apfel angeblich auf den Kopf, dreieinhalb Jahrhunderte später.)
So denken heute nur noch manche „Verschwörungstheoretiker“, denen man das deshalb auch schäumenden Mundes vorwirft: Ihr „Geschwurbel“ sei insbesondere dadurch auffällig, daß sie dauernd Fragen stellen und immer „einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte“ liefern (was beides einstmals als wissenschaftliche Grundmethode galt). Zum Beispiel: Bill Gates verdient Milliarden damit, daß Impfstoffe verkauft werden, und ist außerdem von dem prinzipiell nicht abwegigen Gedanken besessen, der menschlichen Bevölkerungsexplosion müsse dringend Einhalt geboten werden. Deshalb macht Bill Gates Werbung und Lobbyarbeit für die Verbreitung von Impfstoffen und läßt nebenbei in besonders bevölkerungsexplosiven Gegenden Methoden zur Empfängnisverhütung testen.
Bah! rufen da die magischen Denker. Das sei viel zu simpel gedacht! Denn siehe: Gottes Gründe sind mannigfaltig und dunkel, wage nicht, sie zu ergründen! Mehr oder weniger hieb- und stichfeste Belege für so einfach hergeleitete Erklärungen und Thesen setzen die magischen Denker auf Schwarze Listen und Indices verbotener Schriften; wer sie verbreitet, wird mit dem Bann der Faktenchecker-Inquisition belegt, entsprechende Hinweise aus der zugänglichen Literatur getilgt, dann beten alle noch mal ein Stück lauter, und schon werden die Götter des Schicksals wieder wohlgesonnen. Die Ketzer müssen derweil zur Kenntlichmachung einen Hut aus Aluminium tragen und sich gefallen lassen, daß man ihnen die irrsten Verfehlungen andichtet, so wie man über ihre frühen Vorgänger wußte, daß sie nicht nur verbotene Schriften lesen, sondern auch satanische Orgien feiern und dort gegrillte Knaben servieren (daß die Hl. Inquisition jahrhundertelang der sprudelnde Quell der meisten „echten“ Verschwörungstheorien war, vergißt man ja auch gerne; fragen Sie mal die Ritter vom Orden der Tempelherren!).
Richtig denken heißt heute: magisch denken. Wenn ich um Punkt elf Uhr die Kneipe verlasse, werden morgen „die Zahlen“ nicht „hochschnellen“. Wenn ich ein „Haltet zusammen!“- oder „Ich habe die App!“-Bildchen auf Facebook poste oder like, gehen „die Zahlen“ nachweislich sogar zurück! Wenn ich in Zeiten erzwungener Kurzarbeit um so höhere Höchstleistungen beim Joggen und Zahlenkonsumieren zeige, bleibe ich „danach“ lebenswert. Wenn ich Mund und Nase mit Stoff sticke, bis mir vor lauter aus- und wieder eingeatmetem Kohlendioxid schummerig wird, sieht Gott diese Selbstgeißelung mit Wohlgefallen und wird mich und die meinen erretten! Wenn ich große Mengen Klopapier kaufe, banne ich den Virus!
Magisches Denken hing früher gerne mal mit dem Himmel zusammen. Da fuhrwerkten die Götter herum, wärmten als Sonne und zürnten als Gewitter. Auf daß sie die Ernte nicht verhageln, opferte man ihnen Getreide, Vieh und junge Mädchen. Das hatte sich irgendwann so eingespielt, daß man so und so opfern mußte, auch wenn es schon lange keine verhagelte Ernte mehr gegeben hatte – oder gerade deswegen: schließlich war das der Beweis, daß die Opfer wirkten! Derweil suchten die Gelehrten den Himmel nach Zeichen ab und wurden hie und da fündig, entdeckten in Sternbildern den Lauf des Schicksals und in Kometen Botschaften des Allmächtigen.
Dann wurde man rational und suchte erst recht am Himmel herum, fand aber nur noch banales Zeug. Das reichte eine Zeit lang für milde Begeisterung. Der Naziraketenbauer und „Weltraumpionier“ Wernher von Braun wähnte noch in den sechziger Jahren, man werde zukünftig die Ferien auf der Venus verbringen.
Aber die Venus erwies sich als ziemlich unwirtlich, die sonstigen Strecken als viel zu weit. Hin und wieder erblickte jemand einen Zwilling der Erde, aber mei – wenn wir da hinkommen könnten, dann täten wir den halt per Wachstum und Kapitalismus noch schneller in Dreck und Schutt legen als die erste Erde (wir haben ja Übung!), und was brächte das schon? Irgendwann schaute kaum noch einer hin, spätestens als man uns erklärte, der größte Teil des Weltraums bestehe sowieso aus „dunkler Materie“; die man weder essen noch trinken noch sehen, riechen, hören, spüren oder irgendwie wahrnehmen oder messen könne. Da schaute gar keiner mehr hin. Inzwischen, so habe ich gehört, studiert man Astronomie und verwandte Gebiete und wird Bachelor, Master oder gar ein richtiger Doktor, ohne ein einziges Mal ein Teleskop in den Himmel gerichtet zu haben.
Statt dessen starrt und betet der Mensch ein abstraktes Wachstum an, das nur auf den Konten der Allerreichsten der Reichsten konkret wird, ansonsten schaut er auf die Wirtschaft, auf die Zahlen und in sich selbst hinein. Da findet er nicht viel, höchstens bedrohliche Viren und anderes unheimliches Kleinstzeugs, das seine Verwendbarkeit und Ausbeutbarkeit für das Wachstum schmälern könnte und deshalb der Satansteufel ist und mit allen Mitteln aus der Welt verjagt werden muß. Und dann denkt er magisch und unterwirft sich kasteienden Ritualen, so wie er einst Brot, Bier und Menschen auf dem Altar opferte. Damit das längst implodierte „Wachstum“ doch noch weitergeht und die Allerreichsten der Reichsten ein (vor-)letztes Mal noch reicher werden. Hei! freut er sich dann, wenn die Lufthansa „gerettet“ und Jeff Bezos, Bill Gates, Elon Musk und der Erfinder der abscheulichen „Zoom“-Software in wenigen Wochen etliche Milliarden reicher geworden sind!
Das wäre ja alles ganz putzig, wenn es nicht so schreckliche Folgen hätte, für die Welt, die „Umwelt“ und für den Menschen selbst. Vielleicht wäre es gescheiter, es den Schwirrfliegen nachzutun und einfach wild in der Gegend herumzuschwirren, damit die Sonne langsamer untergeht und der Sommerabend irgendwann ewig wird, und ansonsten aber hin und wieder mal ein kleines bißchen rational zu denken?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint normalerweise alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil alle Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund der Coronapanik abgesagt wurden. Daher gibt es die Kolumne vorübergehend nur hier (und auf der In-München-Seite).