(Untertitel: Kaum geordnete Eindrücke eines restlos Überforderten)
Willkommen in der Welt der Zahlen! Seit der Coronakrieg „ausgebrochen“ ist (die Gänsefüßchen klären wir eventuell später), sitzt gefühlt die gesamte Weltbevölkerung vor Bildschirmen und Verlautbarungstafeln und läßt sich das Leben vorrechnen: Im Tagesrhythmus erfahren wir aus weißbekitteltem Munde, daß jeder zehnte, jeder vierte, jeder hundertste, jeder achtundvierzigste, jeder zweitausendste, jeder millionste, jeder zwanzigste oder beziehungsweise überhaupt fast jeder von uns sterben wird, wenn wir den Virus nicht rechtzeitig niederringen.
Dazu kommt, daß auf 28.000 Intensivpflegeplätze bald 50.000 oder 2.000.000 oder 1.600 oder 398 oder jedenfalls ungeheure Massen von Dahinsiechenden kommen werden, von denen wiederum die Hälfte stirbt oder neunzig Prozent oder 75 Prozent überhaupt keine Symptome spüren oder nur ein Drittel der vorgeschriebenen Symptome, die aber zu früh oder zu spät oder irgendwann anders.
Gebannt starrt man auf die internationalen Sterbeziffern, auf Kurven und Diagramme, auf winzige Häkchen nach oben beziehungsweise unten, verrechnet Tendenzen und Prognosen, stellt Mischkalkulationen zu Durchseuchung und Vorerkrankungen an, stellt die Haare zu Berge angesichts von Bildern platzender Krankenhäuser, konsultiert Intensivstationstatistiken und stellt fest, daß die Krankenhäuser gar nicht platzen – höchstens einige kaputtgesparte in Norditalien, die jedes Jahr zur Grippesaison zuverlässig platzen.
Der eine Weißkittel versichert, es würden nur „bestätigte“ COVID-19-Tote in die Statistik aufgenommen. Der andere betont, das sei grundsätzlich unmöglich, weil man einem 90jährigen Menschen, der an Lungenkrebs, Herzschwäche, Diabetes und Demenz leide und sich nun auch noch den Virus einfange, nicht ansehe, woran genau er gestorben sei. Der dritte zählt Gehirnblutungen, Herzinfarkte, Verkehrsunfalltote und Suizide in der Badewanne selbstverständlich dazu, solange er nur das Virus findet. Der vierte zeigt auf den Friedhof und meint, da sei sicher eine ganz schöne Dunkelziffer unerkannt durchgerutscht, die Gefahr also noch viel größer. Und der Normalmensch, also jeder von uns, schaut aus dem Fenster und weiß genau: Die Zahlen sind alle da draußen, aber wir sind drin! Oder ist schon das Virus in uns drin? Oder schon wieder draußen?
Ein „reputabler“ Mediziner – also einer, den Wikipedia, Facebook und Tagesschau (zumindest noch) nicht geächtet haben, sondern (noch) zitieren – berichtet, er führe seit vier Wochen Antikörpertests durch. Ein anderer „reputabler“ Mediziner prophezeit, es werde demnächst Antikörpertests geben. Ein dritter behauptet, sämtliche Tests seien fehlerhaft und unzuverlässig, und wird prompt mit einem Kacksturm niedergemacht und medial angeprangert – „Bitte nicht anklicken! Das ist gefährlich und kostet tausende Menschenleben!“ flehen Bewegte in Kommentaren unter seinen und seinesgleichen Videos.
Einer erklärt, wenn man in einer Woche 10.000 und in der nächsten 100.000 Menschen teste, sei ein Anstieg der „neu Infizierten“ von zehn auf 100 vollkommen logisch, weil es sich gar nicht um neu Infizierte handle, sondern der Anteil der anscheinend Infizierten an der Masse der Getesteten exakt gleich bleibe. Auch ihn trifft der Bann des Social-Network-Kreuzzugs. Hausärzte, die der eine oder andere noch besuchen darf, flüstern hinter vorgehaltener Hand von Schwindel und Blödsinn, erzählen von vermutlichen COVID-19-Fällen schon im letzten Herbst und Winter, die niemand bemerkt habe, weil es noch keine Tests gegeben habe; sie wollen sich aber lieber nicht näher äußern, weil alles, was vom offiziellen Seuchenexpansions- und -bekämpfungsdirektiv abweicht, eine strafbare „Verschwörungstheorie“ sein muß, der inhärenten Logik zufolge. Es zählt nur der Test, und der sagt: Der Tod kommt! immer schneller und immer massiver!
Sowieso testet jeder anders. Der Deutsche testet von Symptomen Befallene, der Italiener Tote, der Iran vermutlich Ungläubige; der Engländer testet mit Tests, in denen der Virus schon drin ist, der Chinese testet angeblich mehr Menschen, als überhaupt „Testkits“ auf Erden vorhanden sind, und der Ami testet nur Privatversicherte. Der Isländer macht repräsentative Testreihen, deren Ergebnis niemand hören möchte, weil es nicht zur Panikmache taugt; der Japaner testet vorsichtig, weil er keinen Ärger haben möchte, der Nordkoreaner testet gar nicht, weil es dann auch keine Infizierten gibt, und wer oder was in Kenia, Guatemala, Turkmenistan und im Südsudan getestet wird, weiß niemand.
Sowieso braucht man erst einmal: noch mehr Zahlen! Die ändern sich jeden Tag, weil sich die Zählweisen jeden Tag ändern. Bekannt ist das exponentielle Wachstum der „Infizierten“, weil man neuerdings auch „Verdachtsfälle“ dazuzählt (Personen mit leichtem Husten und solche, die vor drei Wochen jemandem begegnet sind, dessen Tante später positiv getestet wurde). Hingegen vollkommen unbekannt ist die Zahl der Getesteten und wie sie getestet wurden und warum. Das brächte nur Verunsicherung, und Sicherheit ist in Deutschland das oberste Gebot!
Das Robert-Koch-Institut, das seit 1994 ersatzweise die Aufgaben des von Horst Seehofer (wegen einem Virus!) versehentlich kaputtgemachten und nie ersetzten Bundesgesundheitsamtes übernimmt, kennt keine Zahl der Getesteten. Auf fünfmaliges Nachfragen eines beharrlichen Investigativjournalisten kennt es so eine Zahl plötzlich doch, allerdings weiß die eigene Pressestelle nichts davon. Am nächsten Tag ist die Zahl plötzlich wieder verschwunden. Zahlen? Ja bitte, aber die richtigen, die der Sicherheit dienen!
Sicherheit: heißt, daß man an der Isar als Einzelgestalt nur zehn Minuten lang an einer Stelle liegen darf. Dann kommt die Polizei (ohne Schutzkleidung und Gesichtsmaske!) und scheucht einen weg. Sicherheit heißt auch: keine Kommunikation! Erlaubt ist nur der elektronische Austausch, weil bei dem sichergestellt ist, daß man alle drei Sekunden eine amtliche Warnung erhält, auf keinen Fall ein Video der Hockertz-Wodarg-Bhakdi-Mölling-Ioannidis-Bande anzuklicken, das möglicherweise von den Wachtrupps bei Youtube noch nicht gelöscht wurde.
Sicherheit heißt: nicht auf die Straße! nicht in die Kneipe! nicht zu sterbenskranken, einsamen, verlassenen, verzweifelten Mitmenschen! nicht in die Kirche, nicht auf den Fußballplatz, überhaupt nirgendwohin, wo man feststellen könnte, daß eigentlich alles ganz normal und nichts Schlimmes passiert ist! Daß da überhaupt nichts Wesentliches ausgebrochen ist, daß es zumindest nicht einfach so „ausgebrochen“ ist – einfach weil exekutiv deklarierte Notstände das nicht tun.
Das ist die Grundregel des Ausnahmezustands: Die Illusion der unfaßbaren, alle und alles jederzeit und überall bedrohenden und angreifenden Katastrophennotlage darf unter keinen Umständen in Frage gestellt oder gar angekratzt werden! Logik, gesunder Menschenverstand, Verständigung, Überprüfung, eigene Meinungsbildung, Diskurs, Debatte, Beobachtung und unabhängige Einschätzung müssen um jeden Preis absolut ausgeschaltet werden!
Und wir? Sitzen da, zugeschüttet mit Zahlen, verstehen nichts mehr, ahnen etwas, trauen uns den Gedanken aber nicht weiterdenken, weil das getrackte Handy auf dem Küchentisch Mißtrauen weckt: Hört das Ding vielleicht auch schon mit, was in meinem Kopf passiert? Liest es meine Gesichtszüge und erkennt den Defaitisten?
Wer werden wir sein, wenn das alles vorbei ist? Oder: falls es vorbeigeht? Werden (oder würden) wir das, was sich verändert hat, überhaupt noch bemerken, wo wir es doch schon so gewohnt sind?
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint normalerweise alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Derzeit kann das Heft nicht erscheinen, weil alle Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, aufgrund der Coronapanik abgesagt wurden. Daher erscheint die Kolumne vorübergehend nur hier.