Belästigungen 03/2020: Acht Milliarden schnatternde Braunmäuse (und eine Salzbrezel)

Willie Nelson hat zu kiffen aufgehört. Diese zufällig aufgeschnappte Meldung beschäftigt mich seit Tagen, weil ich nicht recht weiß, was ich damit anfangen soll. Man hat es mir mitgeteilt, also vermute ich, daß es eine Bedeutung hat und ich eine Meinung dazu haben oder entwickeln sollte. Oder woher sonst kommt der unterschwellige Drang, die Meldung weiterzuerzählen (neudeutsch: „teilen“)?

Das nämlich kennt jeder: Man hört oder liest etwas, was man eigentlich weder hören noch lesen wollte. Vielleicht um den Schmarrn gleich wieder loszuwerden, klebt man ihn dem nächstbesten Dahergelaufenen ans Ohr, am besten mit einem vielsagenden Amüsiergeräusch hinterher: „Hast du schon gehört? Willie Nelson kifft nicht mehr! Hi hi hi!“ Der andere – der man in der Hälfte aller Fälle selber ist – kichert eifrig mit oder sagt so was wie: „Da sieht’s man’s mal wieder.“

Aha, und was sieht man da und was ist so lustig daran, wenn ein 86jähriger Countrysänger beschließt, „mehr auf seine Gesundheit zu achten“ und deswegen eine offensichtlich nicht so arg gesundheitsschädliche Gewohnheit aufzugeben? Nicht viel, würde ich vermuten, aber erstens: habe ich’s ja selber nachgeplappert, und zweitens: Was weiß ich schon?

Ich erinnere mich an ein ähnliches Phänomen, als vor ziemlich genau achtzehn Jahren der Präsident der USA um ein Haar an einer sogenannten „Salzbrezel“ erstickt wäre. In den Tagen danach mußte ich mir diesen Sachverhalt gefühlt dreitausendmal anhören und irgendwas mit „Hi hi hi“ oder „Sieht man’s mal wieder“ herausgeben. Eine flüchtige Internetrecherche ergab gut 25.000 Salzbrezel-Meldungen in drei Tagen allein in deutschen Zeitungen. Als derselbe Präsident zwei Wochen zuvor die „Achse des Bösen“ ausrief und damit die Ermordung mindestens einer Million Menschen im Nahen Osten und anderswo einleitete, erntete er nicht halb so viel Aufmerksamkeit, zumindest nicht an Bartresen und Wirtshaustischen.

Aber das ist ein alter Hut. Wenn die internationale „Politik“ unangenehm wird, stellt der gerade noch so weltläufige Meinungsträger fest, daß man da sowieso nichts machen kann, stärkt sein Rückgrat (das man seit seiner Versächlichung um die letzte Jahrhundertmitte gerne für ein Rad hält) mit der täglichen Lieferung transatlantischer Propagandabeschwörungsformeln und kümmert sich lieber um Salzbrezeln, nicht mehr kiffende Althippies, Schlagersängerinnen, die ihre Brüste vor die Selfiekamera halten, oder wahlweise die grammatisch korrekte Umsetzung von Geschlechtsmerkmalen.

Wenn man aber, wie man heute sagt, in dem Thema erst mal „drin“ ist, dreht es sich im Kopf und kriegt Ableger. Zum Beispiel frage ich mich, was für eine Welt es ist, in die der plötzlich klarköpfige Herr Nelson am Tag nach seinem letzten Spliff hineinerwacht. Ein Blick in das, was man derzeit für meldenswert hält, zeigt: Es ist eine wirre Welt voller „Hi hi hi! Da sieht man’s mal wieder“-Geplapper, in der sich regelrechte „Debatten“ in sogenannten Massenmedien entfalten, weil eine achtzehnjährige Münchner „Influencerin“[1]in einem TikTok-Video etwas ungeschickt die Modalitäten eines NATO-Bündnisfalls erläutert, der eventuell eintreten könne, weil „Donald Trump einen der wichtigsten Männer vom Iran getötet hat“. Und schon marschieren Heere von Kolumnisten, Kommentatoren, „Medien-“ und sonstigen „Wissenschaftlern“ und „Experten“ sowie trainiert entgeisterten Politclowns aus der vierten bis siebten Liga auf den Plan und sondern einen derartigen Wirbelsturm von Bullshit in das Vakuum ab, das man aus irgendwelchen Gründen „Öffentlichkeit“ nennt, daß dem Nichtbekifften Hören und Sehen vergeht.

Ich muß dabei unwillkürlich an die Braunmaus denken. Das ist ein putziges Tierchen, das sich in Mittelamerika vorläufig noch erfolgreich gegen das Ausgestorbenwerden wehrt und eine lustige Gewohnheit hat: Die Männchen erzeugen, um Weibchen anzulocken und zu beeindrucken, einen „Gesang“, der ungefähr dem Geräusch ähnelt, das entsteht, wenn man (wie früher üblich) einen halben Joghurtbecher oder drei Spielkarten mit Wäscheklupperln am Radlhinterrad befestigt, um auf Giesinger Hinterhofniveau das Geräusch eines 750-Kubik-Motorrads mit vier Auspuffrohren nachzuahmen. Treffen sich zufällig zwei Mäuseriche im Brunftmodus, hebt umgehend ein imposantes und höchst schlagfertiges Dialogschnattern an.

Nun haben Forscher der New Yorker Universität herausgefunden, daß bei dem Geschnatter exakt das gleiche Hirnareal zum Einsatz kommt wie beim menschlichen „Gespräch“. Ich vermute daher, daß Braunmäuse, wenn sie gerade mal nicht am Schnattern sind und Muße haben, sich mit dem zu beschäftigen, was ihre menschlichen Weltmitbewohner von sich geben, erstaunt feststellen: Die tun auch nichts anderes als wir – sie schnattern und schnattern und schnattern, um ihre potentiellen Geschlechtspartner zu beeindrucken!

Andererseits könnte es sein, daß sich die Braunmaus nicht wie wir irrtümlich einbildet, mit ihrem Geschnatter Informationen zu vermitteln. Dann stünde sie zweifellos auf der Leiter der Evolution ein paar Sprossen oberhalb dem Homo sapiens. Aber das ist ja auch keine besondere Leistung.

[1]Der Name der Münchner Schülerin ist Laura Sophie, und ihre „Analyse“ der Situation war zwar unbeholfen, aber um einiges treffender und weniger verschwurbelt beziehungsweise verblödet als die Gegenanalysen in Zeitschriften wie dem „Stern“ und der „Twitter“-Kommentar eines CDU-Politikers namens Felix Leidecker: „Laura-Sophie. 828.000 Follower auf Instagram. 2.200.000 Follower auf TikTok. Und absolut nichts, was diesen Unsinn auf den jeweiligen Plattformen adäquat einordnen oder zurechtrücken könnte. Oder wenigstens die Rechtschreibung korrigieren würde. Wir sind verloren.“

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint in gekürzter Version alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

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