Belästigungen 22/2019: Alle Wege des Aberglaubens führen nach Rom

Es ist kaum etwas so hartnäckig wie ein Aberglaube. Wenn man den mal hat, geht er nicht mehr weg, weil er sich seine eigenen Denkwege ins Gehirn gräbt und alle Gedanken irgendwie da hineinverführt, und dann steht man oft da und muß selber lachen über die eigene Blödheit, weil man schon wieder auf den Schmarrn hereingefallen ist.

Wenn man in der Lage ist, über sich selbst zu lachen. Manche Leute können das von Haus aus nicht, weil der Aberglaube nicht nur Tunnels für Gedanken gräbt, sondern auch Mauern baut und Dämme aufschüttet.

Zum Beispiel gibt es im 21. Jahrhundert immer noch Menschen, die glauben, man könne Straßen, Stadtviertel, ganze Städte „entlasten“. Die „Last“ besteht zum Beispiel bei einer Straße in den blechernen Tötungsmaschinen, die drauf fahren. Das sind immer zu viele. Und da meint man dann: Hey, laß uns doch die Straße noch breiter machen und am besten noch drei neue Straßen bauen, dann wird die Straße entlastet, und alles ist wieder gut.

Funktioniert aber nicht, weil es auf einem Aberglauben beruht. Straßen, das wissen wir alle, schaffen ihre eigene Nachfrage. Baut man drei neue, sind sie sofort verstopft. Baut man dann noch drei neue dazu, sind die auch sofort verstopft. Kurz gesagt: Baut man eine Straße für zehn Autos, werden zwanzig neue Autos gebaut und wollen zwanzig drauf fahren. Baut man drei Straßen für dreißig Autos, wollen sechzig drauf fahren.

Das weiß (im Prinzip) jeder. Weil es nachweisbar und nachgewiesen ist. Dasselbe gilt für Wohnungen: Davon gibt es immer zu wenig. In München zum Beispiel. Da werden seit Jahrzehnten immer neue und immer gewaltigere Wohn/Schlafmaschinen errichtet, ganze Quadratkilometer zubetoniert, und es hilft absolut nichts. Baut man zehn Wohnungen, so stehen zwanzig Leute da und brauchen eine Wohnung. Baut man zehntausend Wohnungen, wollen zwanzigtausend eine.

Übrigens auch ein alter Aberglaube: Weil das Verhältnis zwischen dem, was man hinstellt, und dem, was gebraucht wird, gleich bleibt, meint man, das Problem bleibe das gleiche. Es ist aber ein Riesenunterschied, ob zehn Wohnungen „fehlen“ oder zehntausend. Und wenn zehntausend fehlen, dann baut man die, und wieder wollen zwanzigtausend eine. Das summiert sich, und am Ende wollen Millionen eine Wohnung in München, und dann baut man eine Million Wohnungen in München und betoniert die ganze Fläche zwischen dem Bayerischem Wald und dem Starnberger See zu, und schon wollen zwei Millionen Leute eine Wohnung in München.

Es ist eine Spirale des Wahnsinns, in der wir rotieren. Mit jeder „Entlastung“ verdoppelt sich die Last, und das Gedächtnis ist gnädig: Man vergißt, was in Taufkirchen, Riem, Moosach, Freimann, Freiham, Laim, Berg am Laim, Au, Hadern, Giesing, Perlach, Schwabing, Oberwiesenfeld, Pasing, Thalkirchen, Sendling, Föhring, hinter dem Hauptbahnhof usw. usf. seit 1965 passiert ist und passiert. Schon weil man damals ja selber noch gar nicht da war. Man macht einfach immer weiter: immer mehr, immer schneller, und der Bedarf potenziert sich ununterbrochen. Hilfe!

Und dann fängt aber irgendwann etwas zu bröckeln an. Dann stellt man zum Beispiel fest, daß so gut wie sämtliche Tier- und Pflanzenarten so gut wie ausgestorben sind. Und der Sand geht aus. Und der Kies. Und das Wasser. Und das Öl, das Gas. Und alles mögliche andere. Plötzlich ahnt man, daß man es vielleicht übertrieben hat. Daß man vielleicht in ein paar Jahren selber aussterben wird, wenn das so weitergeht.

Dann steht man im Gewimmel an der Isar (weil man liegen wegen Menschenmasse nicht mehr kann) und denkt: Okay, noch mal doppelt so viele, was dann? Dann steht oder eventuell (wenn man an der Starthaltestelle eingestiegen ist) sitzt man in der U-Bahn, betrachtet die verkeilten, schwitzenden, ausgebrannten Leiber der zerstreßten Menschenmassen und stellt sich vor, daß die sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln werden (einzeln und insgesamt), und denkt: und dann?

Dann bauen wir hunderttausend neue Wohnungen! schreit der Aberglaube. Es gibt aber keinen Kies, keinen Sand, kein Wasser, keinen Beton, keinen Platz, es gibt absolut nichts mehr! sagt der Rest von Vernunft.

Auf den hört keiner. Mehr! weiter! schreien die Wahnsinnigen in ihren Zentralen, Spekulationsbüros, Planungs- und Baureferaten. Es muß aber im Grunde auch keiner auf den Rest von Vernunft hören, weil sich solche Sachen von selbst erledigen.

Zum Beispiel Rom: die wissen das aus Erfahrung. Da ist genau das, was in München zur Zeit passiert, schon mal passiert. Da wollte jeder hin, da herrschte jahrzehntelang Wohnungsnot, wurde gebaut wie wahnsinnig, bis die Stadt endlich auf über eine Million Menschen angeschwollen war. Ein (historisch betrachtet) paar Jahre später war es nicht mal mehr ein Zehntel, das in leerstehenden Hochhäusern herumsaß und sich fragte, woher morgen das Frühstück kommen sollte. Noch ein paar Jahre später war die Stadt praktisch ausgestorben. Kann sich jemand München mit zwanzigtausend Einwohnern vorstellen? Oder mit zwanzig? Tut das doch mal, nur so als Übung!

Und glaubt nicht, das sei ein Einzelfall. Tausende Städte auf diesem Planeten sind entstanden, gewachsen, explodiert und wieder implodiert und teilweise völlig verschwunden. Die meisten kennt keiner mehr. Irgendwas hat halt nicht mehr gereicht für immer neu hereinströmende Massen: Wasser, Getreide, Bier, Wein, Spielkarten, Sojabohnen. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, an dem praktisch alles nicht mehr reicht. Wie gesagt: Sand und Kies werden knapp. Gibt es nur noch in ein paar Naturschutzgebieten. Zehntausend neue Wohnungen in München bedeuten zehn Naturschutzgebiete weniger. Was andererseits auch schon wurst ist. Es gibt ja sowieso kaum noch welche, und wer interessiert sich schon dafür, wenn es darum geht, daß die Wirtschaft brummt und „wächst“?

Nein, nicht ganz. Noch leben wir. Noch haben die, die leben, ein Recht darauf, zu leben. Und mit denen, die leben, sind nicht Aktien, Maschinen, Geldbeutel und Börsenkurse gemeint. Sondern Menschen.

Neulich war in der BR-Realsatiresendung „Quer“ (in der unter anderem ein Moderator und ein Flughafensprecher gemeinsam Start- und Landebahnen verwechselten und der Eggarten als „Kleingartensiedlung“ bezeichnet wurde, hi hi) ein sozusagen klassisches Beispiel für den Wahnsinn zu sehen, den wir derzeit erleben: Da jammerte ein verzweifelter Vater, er wohne mit Frau und zwei Töchtern in einer Dreizimmerwohnung und finde ums Verrecken nichts größeres, obwohl das doch absolut nötig sei und er schon dreitausend Euro Belohnung geboten habe für eine Vier- oder Fünfzimmerwohnung. Weil doch die (einstellig minderjährigen) Töchter für ihre Abrichtung zum Ausbeutungsvieh unbedingt je ein Zimmer und einen eigenen Schreibtisch brauchen! Da muß man doch planieren, vernichten, ausrotten, betonieren!

Klar. Die Restvernunft antwortet spontan: Euch ist nicht mehr zu helfen. Zieht nach Rom. Aber bitte in das antike.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint in gekürzter Form alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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