Lebensplatten #001: Yes „Tales From Topographic Oceans“

Der 12jährige schrieb in sein Tagebuch: „Heute wurde ich von einer Platte gepackt.“ Rausch- und Wahnsinnssymptome habe die Musik bei ihm hervorgerufen, was a) ungeheuer erstrebenswert gemeint war (man schrieb die mittleren 70er, man!), b) schon was heißen wollte, nachdem man sich über Monate durch Deep Purple, Emerson, Lake & Palmer und diverse Deutschrock-Abstrusitäten gearbeitet hatte, und c) selbstverständlich einer Mischung aus Hysterie und Selbsthypnose entsprang.

Yes waren zu jener Zeit der Heilige Gral einer Musik, deren Bedeutung mit der Länge der „Songs“ exponentiell stieg. Mit „Tales From Topographic Oceans“ war der Gipfel des Machbaren so gut wie erreicht: vier Plattenseiten, vier … nun ja, Stücke (laut Coverkommentar: „Movements“), alle um die 20 Minuten lang – mehr ging im Vinylzeitalter kaum (man munkelte von einer amerikanischen Gruppe, die ein viel längeres … nun ja, Stück über mehrere Plattenseiten verteilt hatte, aber wie sollte man sich so was sinnvoll anhören?).

Klammer noch mal auf: „Anhören“ nämlich hieß: sich in einen verdunkelten Raum begeben, Störungen für die nähere Zukunft ausschließen, entspannt auf dem Teppich ausstrecken, Geist und Hirn öffnen wie einen trockenen Badeschwamm, um den Flutschwall von Sinn aufzusaugen, der sich aus den scheinbar undurchdringlichen Dichtungen zum Themenkreis Shrutis-Suritis-Puranas-Tantras weniger ergoß als erratisch flockte, vorgetragen mit Jon Andersons ätherischer Feenstimme, umspült von musikalischen Themen, die in einem Weltall schwebenden Klangs … nun ja, schwebten wie Staubmäuse auf schimmerndem Parkett in der Wintermorgensonne.

Die Doppel-LP insgesamt und als Ganzes auswendig nachsummen zu können (an todlangweiligen Schulvormittagen im düsteren Kellerklassenzimmer, in dem die Wintersonne nur als fernes Versprechen zu ahnen war), darf als ziemliche Leistung gelten. Mit Löchern: Die Kracheskapaden in „The Ancient“ blieben eine gigantische graue Staubmaus, durch die kein Photon der Erkenntnis drang. Und es versorgte den Summenden mit diffusen Phantasmen über die Quellen des Bösen, über reine Liebe, versunkene Zivilisationen, Erinnerungen an eine neonblau strahlende Zukunft im fernen Weltraum (unter der Bank lag das aufgeschlagene Terra-Taschenbuch).

War aber ja alles ein Schmarrn: Schon im Herbst rumpelte Punk daher, waren „Stücke“, Soli und Spielzeiten über drei Minuten kreuzpeinlicher Quark, ebenso wie pseudo-indischer Göttermansch und fliegende Fische auf fremden Planeten. Man erfuhr, daß Keyboarder Rick Wakeman das Album haßte und sich, als es auf der folgenden Tour angestimmt wurde, zum Entsetzen der vegetarischen Bandkollegen vom Pizzaservice ein Fleischcurry auf die Bühne liefern ließ – weil er außer einem zickigen „Zip-Zip“ hier und da sowieso kaum was zu tun hatte. Und Jon Anderson gab irgendwann grinsend zu, er habe die Fußnote in Paramahansa Yoganandas „Autobiographie eines Yogi“, der das ganze Konzept mit seinen vier Sätzen entsprang, nie wirklich verstanden (und sich sowieso verlesen: statt „Suritis“ stand da Smriti).

Aber vieles, was in den Himmel schießt und dann in den Gulli purzelt, findet schließlich einen Boden. Was man unverstanden heiligt und überdrüssig auf den Kompost schmeißt, bleibt manchmal unverrottet, und immer wieder stolpert man drüber. Der ehemalige 12jährige zog und zieht die Platte zuverlässig einmal im Jahr aus dem Regal und hört sie am Stück, findet im Schlimmen verborgene Schönheit, im Erhabenheitspathos verblüffende Ideen, im drögen Schwallen eine abenteuerliche Vision, hinter opaken Zeilen Anspielungen, Verbindungen und Querverweise in alle nur denkbaren Richtungen, die nicht umsonst eine wahre Wissenschaft um dieses seltsam mißratene, zufällig geniale, nie umfassend greifbare Album entstehen ließen: Es gibt fast 50 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch und immer Neues zu entdecken und zu erschließen, und die vor Sehnsucht, Glück und Verheißung pulsierenden Bilder, die ihm beim Hören entsteigen, sind immer noch die gleichen.

Eine stark gekürzte Version dieses Textes erschien im Oktober 2019 als Folge der Rubrik „Meine Platte“ im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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