Frisch gepreßt #446: The Paranoid Style „A Goddamn Impossible Way Of Life“

Reden wir doch mal ein paar Takte über politische Rockmusik.

Über was? Jesus, hier muß ein Mißverständnis vorliegen. Rockmusik, das ist doch dieses Zeug, das entweder in Kellerkaschemmen rumpelt und sich vornehmlich mit Sex, Saufen, Zigaretten, Autos und bösen Weibern beschäftigt oder in Stadien lärmwalzt, wo sich moderne Millionengötter dafür feiern lassen, daß sie irgendwie noch leben und ihre Fans auffordern, ein paar Kröten für sauberes Wasser oder so zu spenden! Oder notfalls, wenn man den Begriff weit genug spannt, in In-Cafés, wo die Hipster von 1986 darüber reden, wieso das neunundzwanzigste Album ihrer damals schon langweiligen Lieblings-Indieband nicht mehr ganz so gut ist wie das vierzehnte.

Politik? Hat doch seit der U2isierung der gesamten Musikwelt mit Tönen, Klängen und Rhythmen höchstens dann noch was zu tun, wenn ein in der tiefsten und schmalsten Nische des Poplabyrinths sitzender Alternative-Hip-Hopper zwischendurch mal ein gutes Buch liest und sich aufrafft, statt über seine Verdauungsprobleme und Peer-Group-Streitereien zu schwatzen den sowieso längst Bekehrten was über den Zustand der Welt zu predigen. Freilich, wir werden von Verbrechern regiert, und Krieg ist Mist, der die Reichen noch reicher macht usw.!

Und klar, das war mal anders, und was hat es bewirkt, außer daß Joan Baez, Bad Religion und dutzende andere Großsprecher zu Millionengöttern wurden und John Sinclair zweieinhalb Jahre im Gefängnis saß? Na gut, ein bißchen was vielleicht. Aber die Zeiten, als man wie The Clash einen Rocksong mit der Ansage „This is a public service announcement with guitar!“ anfangen konnte, ohne (ähem) rot zu werden, sind ohne Zweifel so vorbei, daß man sich bisweilen fragt, ob sie je stattgefunden haben. „It was farcical, but it wasn’t comical.“ („Turpitude“)

Mag sein, daß auch Elizabeth Nelson, Timothy Bracy und ihre Band – deren Name selbstverständlich von Richard Hofstadters legendären Aufsatz von 1964 zurückgeht, den inzwischen wohl auch Bad Religion gelesen haben – nicht viel auslösen, außer vielleicht im Kopf des aufmerksamen Hörers. Da aber eine ganze Menge, und das ist vielleicht mehr wert als ein Stein, der in ein Fenster fliegt. Und daß der Körper mitmacht, dafür sorgt die Musik, eine unmittelbar und unwiderstehlich mitreißende Mischung aus brachialen Stones-Riffs, stürmischem Ur-Punk-Tempo mit sympathisch wackeliger Fasson, sommerlich schimmernden Melodien und Chören, melancholisch federnden Sixties-Seidenharmonien, die in ihren schönsten Momenten an die leider unbemerkt vergangene Wunderband Howler erinnert.

Dazu erzählt Elizabeth mit schneidend scharfer, wütend verletzlicher und trotzig stolzer Dringlichkeit von den Dingen, die eigentlich uns allen auf dem Herzen liegen und auf den Magen schlagen sollten, die aber poetisches Genie und politisch-soziale Hyperintelligenz brauchen, um so auf den Punkt zu kommen. Die Ausgangslage, skizziert in „Expecting To Fly (Economy)“:„A better living through consumerism, but I’m waiting to get paid / A better living through action, and I’m willing to try / Everything dies and everything flies.“

Der thematische Bogen reicht von der Verwirrung des modernen Lebens zwischen einem Hagel schockierender Einzelereignisse und der Unfähigkeit, mit der Zerbrechlichkeit der eigenen Identität umzugehen (im zitierten Opener, der vor Namen und Anspielungen nur so wimmelt und die Schuldgefühle, die er ausdrückt, unmerklich überwindet) bis zum irischen Aufstand von 1916, von der Hölle schicksallosen Ruhms („That Guy’s In Rammstein“) bis zur US-Ideologie selbstgeschmiedeten Glücks: (Ayn) „Rand created objectivism, built on reality, reason, self-interest and capitalism / She wrote all this fiction, asked ‚Who is John Galt’ / If someone else suffers and you prosper, it ain’t your fault / All the mod cons and all the mod capers / An endless cycle of meaningless behaviour / All of the lying about all of the dying, and you can’t say ‚I love you’ without first saying ‚I’ .“

O yeah, das ist eine Menge, und es ist noch viel mehr (die Texte gibt es auf Bandcamp, weitere Platten ebenfalls – die beste ist immer noch „Rolling Disclosure“). Und es ist phantastisch, und wenn es wirklich nicht mehr bewirkt, als daß sich im Kopf hundert Türen und tausend Fenster öffnen und frische Luft und Sinn und Zusammenhänge hineinfluten, dann fügen wir „erst mal“ hinzu, denn so: entsteht der Mensch als souveränes, als denkendes, fühlendes und handelndes Wesen. Politisch und überhaupt.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erschien von Herbst 2000 bis August 2019 im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Fast alle Folgen gibt es demnächst auch in einem Buch.

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