(Aus dem tiefen Archiv:) Verschwende deinen Schauplatz!

Es ist eine seltsame Sache mit der Nostalgie. Die achtziger Jahre etwa gelten seit langem in einer Art Generalkonsens der Kulturkritiker als nicht resozialisierungsfähiger Müllplatz ausgearteter Abscheulichkeiten auf praktisch allen Gebieten, die zwischen Mode und Popmusik irgendwie hineinpassen. Und dennoch: vergeht kaum ein Tag ohne Revival-Fernseh-Show, in der Menschen mit absurden Frisurengebirgen in quietschbunten Kunstfaser-Absonderlichkeiten herumhoppeln und befremdlich steife, gleichzeitig aspirinös hektische Ruckizucki-Schrammeleien zum besten geben, die man dazumal „Neue deutsche Welle“ nannte (vielleicht, weil sie so schwappend anmuteten).

So gesehen ist Jürgen Teipels Buch „Verschwende deine Jugend“ ein nach wie vor konkurrenzloser Leuchtturm in der Irrwitzwüste, denn darin ist zu erfahren, wie es zu dem komischen Circus kommen konnte, wie er begann und vor allem: daß er ganz anders begonnen hat und gedacht war, aus dem befreienden Impetus des englischen Punkrock nämlich, als Reflexion der (heute wieder nicht ganz unbekannten) allgemeinen Untergangsstimmung, eine zufallsbrisante Mixtur mithin aus Kunstprojekten, jugendlicher Zerstörungslust und einer (auch politischen) Opposition, die im Mainstream der veröffentlichten Meinungen nicht vorkommen durfte. Das Buch und die Diskussionen, die es begleite(te)n, haben nur einen großen Fehler, der wiederum eine unselige Tradition fortsetzt: München kommt darin praktisch nicht vor, und wo doch, wird abfällig bis begütigend darauf hingewiesen, dort sei nun wirklich gar nichts losgewesen.

Lustigerweise kommt München auch in dem Film gleichen Namens, der am 3. Juli (2003) in die Kinos kommt, praktisch nicht vor, obwohl es mit Bands von ZSD am einen bis United Balls am anderen Ende des Spektrums Leitfossilien der Epoche hinterließ und in einer ironischen Volte der nostalgischen Mechanik als Schauplatz doch eigentlich die Hauptrolle spielen sollte. Die Produzenten und Autoren ließen zwar im Vorfeld der Dreharbeiten vorsichtig anfragen, ob überlebende Zeitzeugen eventuell authentische Requisiten zur Verfügung stellen würden (Plakate, Anstecknadeln, Covers von Platten, die heute zu unvorstellbaren Preisen gehandelt werden), begnügten sich aber nach Erhalt leicht indignierter Absagen mit München als landschaftlichem Hintergrund für eine Geschichte, die sich so vielleicht nie, jedenfalls aber nicht hier abgespielt hat und die in München so fremd wirkt, als hätte man die Fernsehserie „Bonanza“ am Tegernsee gedreht.

Dabei ist die Idee aus der Logik der Geschichte und des Buches heraus naheliegend. Der Film – das kann nicht oft genug betont werden, hat mit dem Buch nichts zu tun, außer drei Protagonisten (zwei vor der Kamera, einer am Drehbuch), dem Titel und der dann doch sehr verbindenden These, daß es einen musikalisch-politisch-künstlerisch-gesellschaftlich-jugendlichen Aufbruch in die frühen Achtziger in Düsseldorf, Berlin, Hamburg und dann in jedem noch so kleinen Nest gegeben habe – nur nicht in München.

Das ist eine gewagte These und wie viele gewagte Thesen kompletter Unsinn, aber sie steht nun einmal im Raum und lieferte die Grundidee: Ein junger Mann, der Harry Pritzl heißt, sich aber mit Nachnamen „Foyer“ nennt (was in München in schlimmsten Zeiten niemand getan hätte) und 1981 in einer Sparkassenfiliale (mit, Achtung: EC-Automat!) arbeitet, leidet schwer an der erwähnten Abwesenheit eines Aufbruchs in seinem Heimatdorf München. Die Welt, in der er lebt, besteht (außer der Sparkasse) aus einem Plattenladen (der offenbar in Berlin abgerissen und in München originalgetreu wieder aufgebaut wurde, weil er ausschließlich norddeutsche Platten anbietet), einer Disco (die dem gleichen Muster folgt) und dem Übungsraum einer Band (dito).

Da also in dem fiktiven München des Films nichts passiert und noch nicht einmal die Band (namens „Apollo Schwabing“ und mit Robert Stadlober als Frontmann) große Wellen schlägt, möchte Herr „Foyer“ die Düsseldorfer Gruppe Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF) für ein Konzert in den Circus Krone holen – mit Apollo Schwabing als Vorprogramm und der erhofften Folge, es möge am Düsseldorfer Wesen die müde Heimat genesen und umgehend eine ordentliche Aufbruchsstimmung aufbrechen.

Tatsächlich hätte die fade Militaria-Gymnastik der D.A.F. im Sommer 1981 keine 2.000 Münchner in den Circus Krone gelockt, auch nicht mit dem Argument einer einheimischen Berlin-Imitation im Vorprogramm. Dafür füllten zum Beispiel die United Balls die Hallen und sangen: „Um mich herum ist alles grau – warum weiß keiner so genau.“

Es ist ja nicht zu bestreiten: Während die umtriebigen Ausgeburten der Szenen von Düsseldorf, Hamburg und Berlin wenigstens für kurze Zeit landesweit berühmt wurden, blieb in München, kommerziell gesehen, alles liegen, verkümmerte in einem Milieu von mangelndem Geschäftsgeist, Faulheit, Gemütlichkeit und undienlichen Präferenzen – etwa der, statt Geschäftsstrategien und Tourneepläne auszuarbeiten lieber erst mal Biergärten und Kneipen aufzusuchen und das große Business sowieso nicht so toll zu finden.

Eine solche Mentalität hat aber auch ihre Vorzüge: Anstatt an Ziele zu streben, kurz aufzuglühen und danach für zwei Dekaden verschämt totgeschwiegen zu werden, blieb die Münchner Variante der neuen Welle ihren Wurzeln treu – provinziell, versponnen und schon vom künstlerischen Ansatz her meist ohnehin kaum verkäuflich. Dafür werden für ihre wenigen nachweisbaren (und einige andere) Artefakte, sprich: Schallplatten, Fanzines etc., heute märchenhafte Summen geboten und bezahlt, von Sammlern nicht nur in München, sondern auch in den USA und Japan, während die soundsovielte Neuauflage der DAF-Platten samt aktuellem „Reunion“-Album in den Ramschkisten vergammelt.

Die Schwächen des Films: Er kann sich nicht entscheiden, welche Geschichte er erzählen soll – die von Harry, von seiner zaghaften Annäherung an Lena, die von Vinz, die der Band usw. –, und deshalb erzählt er gar keine richtig, schneidet alles kurz an und läßt die losen Fäden in den Abspann hineinbaumeln. Aber die größte, entscheidende Schwäche ist eben der Fehler, einen Schauplatz gewählt zu haben, den man nicht kennt, für den sich keiner der Beteiligten interessierte und der deshalb verschenkt und verschwendet ist, denn: München 1981, das wäre in der Tat eine Geschichte, einen Film wert gewesen. So ärgert man sich kurz über das vergeudete Eintrittsgeld und hat die ganze Sache an der Trambahnhaltestelle schon wieder vergessen.

Es bleibt zu hoffen, daß sich eines Tages jemand findet, der das eigenartige Tabu, mit dem Münchens popmusikalische Geschichte (in beiden Richtungen über die achtziger Jahre hinaus) von den Leitfiguren der Historisierung belegt wird, bricht und erzählt, was wirklich passierte.

geschrieben im Frühling 2003 für die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG

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