Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren): Mumm-Ra „These Things Move In Threes“

Gerade bin ich an einem Zimmer vorbeigekommen, in dem kraftvoller moderner Rock lief, und da ist mir der wesentliche Unterschied zwischen Mumm-Ra und dem Rest des Musikgeschäfts aufgefallen: Diese Band will niemanden „überzeugen“, nichts „erobern“ (etwa ein „Marktsegment“), sie hat weder Struktur noch Strategie, ist keine Marke, eigentlich nicht mal eine Band, sondern ein wild pumpendes Herz, dem alles wichtig ist, was in der „Realität“ nicht vorkommt, Liebe vor allem, Liebe und noch mehr Liebe.

Hört man Mumm-Ras Album aus der Ferne, meint man, da habe sich ein Spalt in Zeit und Raum geöffnet, in jene Parallelwelt von Glück, Musik und Freude, in der man sich vor der Totalkommerzialisierung der Popmusik manchmal auf sommerlichen Gratis-Freiluftfestivals in der grünen Wiese wähnte. Daß sich Mumm-Ra so sehr nur für Musik und Liebe interessieren und so gar nicht für Märkte und Zielgruppen, hat einen paradoxen Effekt: Sie verströmen eine solche Euphorie, eine derart vulkanische Fusionsenergie, daß es einem vom ersten Song an förmlich die Füße vom Boden reißt, man jede der vielen ineinander verschlungenen Hymnenmelodien mitbrüllt, als wollte man die Welt erwecken, daß man wahrhaftig heulen möchte vor Glück.

Entscheidende Faktoren neben der vielstimmigen Flut von Melodien: zwei Gitarren, von denen die eine pointilistisch Tönchen wie schimmernde Kirschblütenblätter in die Frühlingsluft streut, die andere wie die klassische Velvet-Underground-Dampfmaschine hypnotisch hämmert; zwischendrin leise Teile, in denen Türen und Fenster aufgehen.

Aufs erste Hören wirken diese Songs, die alle gleich und doch vollkommen verschieden sind, so unendlich einfach wie … na ja, die Liebe eben, aber wenn man aus den Fenstern und Türen hinausschaut, erkennt man Details, die immer kleiner und feiner werden und von denen jedes perfekt ist, sich in alle anderen einfügt und die Musik immer größer und genialer macht. Dann läßt man sich von dem Melodiesturm hinwegfegen, klammert sich vergeblich an einen Rest musikjournalistischer Vernunft („Du mußt einen Stern weglassen, sonst halten die dich für wahnsinnig!“), pfeift auf alles andere und ist nur noch: Liebe. (Sechs von sechs Sternen)

geschrieben im April 2007 für den MUSIKEXPRESS

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen