Was ist eigentlich gleich wieder eine „Boyband“? Fragen wir das Lexikon: „eine Vokalgruppe aus männlichen Sängern, Teenagern oder Anfang zwanzig, die Liebeslieder singen und deren Zielgruppe junge Mädchen sind, meist verbunden mit durchchoreographierten Tanzdarbietungen“.
Also: die Beatles zum Beispiel? Nicht ganz, die haben schließlich Instrumente gespielt. Die Bay City Rollers übrigens auch, die Monkees sowieso. Aber dann: die Jackson Five! Und hinterher die Osmonds! Und die große Welle: New Kids on the Block, Take That, *NSYNC, Backstreet Boys, Westlife, One Direction … Millionen verstaubte Poesiealben erzittern vor Verzückung. Was wäre die westliche Mainstreamzivilisation ohne das Massenspalier duschgelreklamekonformer Lächelmarionetten, das von industriellen Steuermännern in die Kinderzimmer von Generationen geflutet wurde, bis selbst die Spinnweben in den dunkelsten Ecken einen rosaroten Schimmer annahmen? Selten, daß die Durchschnittshautfarbe der beteiligten Darsteller ins weniger Rosarote changierte, selten auch, daß einer davon irgendwann künstlerische Ambitionen entwickelte und ein echtes Gesicht bekam. Robbie, sagen wir mal.
Brockhampton ist (oder war?) auch so eine Boyband, die ihre Mitglieder über ein Kanye-West-Fanforum rekrutierte, 2016 drei Alben in sechs Monaten und letzten September ein viertes veröffentlichte. Majorlabel, freilich, Einstieg auf Nummer eins der Billboard-Charts und all that jazz. Allerdings haben in diesem Fall die Zahnräder ein paar Macken: Erstens fehlt schon mal der dicke Mann mit Zigarre im Hintergrund, der die Fäden zieht, dann hagelte es ab dem ersten Mixtape mit dem selbstironisch-suspekten Titel „All-American Trash“ (das die Band kostenlos veröffentlichte) Lob von Kritikern; am Ende stand im Januar eine in diesem Genre ziemlich nie dagewesene Nominierung als „Best International Group“ bei den BRIT-Awards.
Hm. Boyband? Verdächtig, daß sie sich selbst ausdrücklich so bezeichnen – wer tut das schon und warum? Fragt man sie selbst, ist die Antwort eher manifestiv als niedlich: Es gehe darum, den Begriff zurückzuerobern und neu zu definieren, eben weil und indem ihr Stil nicht (so ganz) zum „Boyband-Stereotyp“ passe. Ein Kritiker wurde da etwas deutlicher: Brockhampton seien „schwul, schwarz, weiß, Do-it-yourself, alles umfassend und angehende Popstars“. Freilich gibt es da einen Manager, einen Kreativdirektor, einen Graphikdesigner, einen Photographen, drei bis fünf Produzenten … die werden jedoch ausdrücklich als Bandmitglieder geführt.
Ebenso wie Kevin Abstract. Der ist Sänger und 22 und hat 2014 noch vor Brockhampton das Soloalbum „MTV1987“ gemacht, laut eigener Aussage u. a. von Britney Spears beeinflußt – ein erster Schritt zur strahlenden Karriere als Teenieschwarm? Nö. War nämlich ein ziemlich gewagtes popkulturelles Konzeptalbum, das in höchst eloquenten autobiographischen Erzählungen jede Menge interessante Denkansätze verpackte. Außerdem „gab“ es die Platte gar nicht: Abstract veröffentlichte sie selbst (im Netz) und zog sie bald danach zurück. 2016 folgte „American Boyfriend: A Suburban Love Story“, eine offensiv unsichere Sammlung von Reflexionen über das Erwachsenwerden in einer lieblosen Welt, mehrmals verschoben und umbetitelt, nachdenklich und anrührend und auf dem Massenmarkt (absichtlich) ohne jede Chance. Was wird denn nun aus der Popkarriere?
Schritt drei: ist drei Schritte. Die EP „Arizona Baby“, drei superglatt polierte Tracks mit heftigem Autotune-Einsatz, unter deren schimmernder Oberfläche einiges lauert, supercoole Jazz-Breaks, Akustikgitarren und Raps mit einer meisterhaften Balance zwischen Intelligenz, Eleganz, Tiefe und Poesie. Die drei weiteren Tracks auf Teil zwei, „Ghettobaby“, sind das ziemliche Gegenteil: warm, weich, nüchtern und geräumig, näher bei Murs, Milo und Damon Albarn als typische Jack-Antonoff-Produktionen. Noch mal fünf Tracks dazu machen das komplette Album zu einer Abenteuerreise durch ein Leben in unserer Zeit (und diese Zeit und Welt), die kaum einen Vergleich zuläßt, fordernd, ohne anzustrengen, grandios ohne Pose, experimentell ohne Geplänkel, vielseitig und genialisch ohne den geringsten Anflug von Überheblichkeit oder auch nur Selbstzufriedenheit.
Also: Abstract, der zukünftige Superstar? Eher nicht. Neulich ließ er verlauten, er wolle 2019 so viel Musik wie möglich veröffentlichen, sich dann musikalisch in den Ruhestand verabschieden und lieber Filme machen. Ach so, diese Statements hat er inzwischen aber auch wieder gelöscht …
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint seit 1999 im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.